Wege nach Myranor

„Wir möchten Sie willkommen heißen auf dem Weg nach Myranor, dem Kontinent voller jahrtausendealter Mysterien und modernster Magotechnik, pulsierender Metropolen und überwucherter Tempelruinen, kultivierter Tierwesen und Bestien in Menschengestalt.“
Jörg Raddatz und Uli Lindner, Vorwort Wege nach Myranor

Ein Auszug aus dem originalen Vorwort einer Publikation als Einleitungszitat zu ihrer eigenen Rezension hatten wir auch noch nicht. Doch muss diese gekonnte Gegenüberstellung grundlegender güldenländischer Gegensätze (Alliterationen bis die Ärzte kommen …) hier einmal lobend Erwähnung finden. Das ist ein guter Start! Mal sehen, ob das Buch nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich überzeugt.

Bewertet die Spielhilfe im Forum von dsa4.deZuvor sei jedoch angemerkt, dass ich selbst (noch) nicht im Güldenland spiele und das Buch daher tendenziell aus einer aventurischen Perspektive betrachte — quasi als „Blick über den Efferdwall“. Dabei geht es mir freilich insbesondere auch um die Unterschiede zum aventurischen Äquivalent: dem Wege der Helden.

Äußerlichkeiten

Oberflächlich abgecheckt wirkt der Band mit 216 Seiten für ein Generierungs-Regelwerk im Zeitalter der vierten Edition des Schwarzen Auges relativ dünn. Das hat seine Gründe, die ihrerseits ziemlich umstritten sind — doch dazu gleich mehr.

Dabei ist das für DSA-Publikationen typische s/w-Layout zusätzlich recht großzügig: Die Schrift ist gut lesbar, die äußeren Zierleisten wirken nicht gequetscht (für meinen Geschmack hätten sie sogar noch etwas näher zum Rand gerückt werden dürfen), und es bleibt immer noch ausreichend Platz für ziemlich sperrige Schriftrollengrafiken, die das myranische Äquivalent zu den bekannten grauen Kästen zu sein scheinen. Naja, ist halt viel mehr Platz jenseits des Meers der Sieben Winde.

eindeutig Helme … oder?

Die Qualität des Artworks ist durchwachsen, mit einigen Ausreißern sowohl nach oben als auch nach unten. Wiederholungen von einzelnen Illustrationen sind mir bis auf die Maske des Meisters keine aufgefallen …

… was aber auffällt, ist die große Anzahl an abgebildeten nackten weiblichen Brüsten jeder erdenklichen Rasse, wobei spätestens die Neristu-Heilerin auf S. 76 alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Hinzu kommen lustige Spielchen mit optischen Täuschungen, bei denen sich die Geister noch daran scheiden, was genau dort wirklich dargestellt werden soll (siehe links).

Am Ende des Bandes findet sich übrigens ein Index, was hier ebenso gesondert Erwähnung finden soll, wie im Impressum extra betont wird, dass er von Uli „die Dunkle Zeiten Box braucht sowas nicht“ Lindner höchstselbst stammt. 😉

Innere Werte

Bei intensiver Begutachtung zeigt der Band schnell seine Eigenheiten. Gegenüber dem aventurischen Generierungsband wurde die Heldenerschaffung deutlich verschlankt, trotz — oder gerade wegen — des größeren Kontinents mit wesentlich opulenterer Artenvielfalt. Eine zu kleinteilige Aufdröselung hätte den Autoren zufolge den Umfang gesprengt, weshalb man sich zur vorliegenden Lösung entschlossen habe.

Die Entstehung der Arten

Bei den Rassen Spezies läuft alles noch ziemlich seinen gewohnten Gang, wenn man von der neuen Bezeichnung absieht. Alle Menschen sind nun einer Spezies zugehörig, Unterschiede werden in Varianten ausgedrückt, was zumindest mal politisch korrekt ist. Aber wer spielt schon Menschen in Myranor? Das Viehzeug hat sich gegenüber dem Myranor-Hardcover nochmal etwas vermehrt, man könnte beinahe mutmaßen, hier habe der Chimärengenerator (Nandurion lästerte) seinen Testlauf hinter sich gebracht. So finden sich dort nun auch Ottermenschen namens Lutraa, Bärmenschen mit der Bezeichnung Baramunen oder aber die Wolfsalben, bei denen es sich um … nunja … Werwolf-Elfen handelt. Besitzer des Myranor-HC müssen jedoch nicht verzagen, denn als besonderen Service hat der Uhrwerk-Verlag ein Update-Dokument mit den neuen Rassen auf Basis der älteren Regeln zum kostenfreien Download bereit gestellt. Einzig auf die Rasse der Zentauren müssen sie verzichten, da hierzu zwingend neue Regelmechanismen aus Wege nach Myranor benötigt werden. Diese sind jedoch sowieso nicht allzu überzeugend, der Zentaur als Spezies wirkt nicht gut konzipiert und dadurch sehr teuer. In diesem Kapitel offenbaren sich gleich einige weitere weniger durchdacht wirkende Details, vor allem, wenn man die diversen Feliden miteinander vergleicht. Dies wurde jedoch in der offiziellen Errata zum Band schon wieder bereinigt, sodass sich Katzenliebhaber nur noch über eine etwas eigenwillige Uminterpretation der Fähigkeit des Schnurrens wundern könnten.

Wirklich viel Raum benötigt dieser Abschnitt dennoch nicht, da die Beschreibung jeder Spezies lediglich etwa eine Seite einnimmt. Die Tytoiden (kulturschaffende Eulen) müssen wohl trotzdem schändlicherweise einer Kürzung zum Opfer gefallen sein.

Kulturschock

Noch gnadenloser wurde hier das Skalpell angesetzt. Wer eine Fantastillarden lokal geprägte Kulturen und Kulturvarianten im Stile von Wege der Helden, nur eben für Myranor, erwartet, der irrt gewaltig. Stattdessen haben wir genau 7 (in Worten: sieben) „Kulturen“, die eher bestimmte Lebensweisen darstellen: barbarisch, bäuerlich, höfisch, maritim, nomadisch, städtisch und vagabundisch. Entsprechend weisen die Wertepakete eine große Variabilität auf, zahlreiche Auswahlmöglichkeiten stehen offen. Schon früh wurde angekündigt, dass Unter dem Sternenpfeiler dahingehend konkreter werden solle; würde es hier nun doch wieder die fertig abgepackten Kulturen geben, eventuell als Paketaufsätze, oder gar als zwei Kulturen nebeneinander, die Lebensweisen aus WnM und die Regionalkulturen aus UdS? Nein, es handelt sich bei den Angaben im Regionalband letztlich um Wahlvorschläge für die im Generierungsband empfohlenen Vor- und Nachteile sowie um eine Aufzählung von in der jeweiligen Region besonders verbreiteten Talenten. Die Variabilität bleibt somit erhalten, die von Kritikern des neuen Kultursystems angeführte Beliebigkeit wird dadurch jedoch etwas eingeschränkt — ob weit genug, muss jeder für sich entscheiden. Selbstverständlich leidet der Detailreichtum mit diesem Verfahren, auf individuelle Eigenheiten einer bestimmten Kultur im aventurischen Sinne — meint: regionale Unterschiede — kann so nicht speziell eingegangen werden. Jedoch spricht die Alternative, nämlich eine ausufernde Kulturenliste des riesigen Westkontinents, für den Status Quo — zumal dies dem weniger festgelegten, metaplotlosen Myranorfeeling viel eher entsprechen dürfte. Besitzer des Myranor-HC finden die neuen Kulturen ebenfalls im bereits erwähnten Update-Dokument.

Zusammenschluss zu Innungen

Auch die Professionen wurden deutlich zusammengefasst, sodass sie nun eher Berufsgruppen entsprechen. Vergleichbar dem aventurischen Handwerker nach DSA 4.1 (WdH 149f.) vereint die Profession Streuner unter anderem sämtliche Hochstapler, Bettler, Falschspieler und Spione in sich. Erreicht wird dies ähnlich wie bei den Kulturen durch ausgiebiges Nutzen von Auswahllisten. Auf diese Weise können höchst individuelle Vertreter desselben Berufszweigs entstehen — mangels überregionaler Ausbildungspläne auch nicht übermäßig unrealistisch ™ und vor allem für all Jene ein Segen, die mit zahlreich vorgegebenen, aber manchmal als unnötig und für den eigenen Charakter unpassend empfundenen Talentboni im Bereich von +1 wenig anfangen können.

Ebenfalls der Vereinheitlichung geschuldet ist das Fehlen jeglicher professionsspezifischer Ausrüstungslisten, da einzelne Gegenstände kaum zuverlässig zugeordnet werden könnten. Abhilfe schafft hier ein eigenes Ausrüstungskapitel, das auf Basis der Professionskategorie (reisend, handwerklich, …) und abhängig von Talentwerten und bestimmten Sonderfertigkeiten einfache Richtlinien zur relativ freien Zusammenstellung des Heldenrucksacks bereitstellt.

Die magischen Professionen sind ebenfalls nach Funktionsweise aufgestellt, so gibt es etwa den Arkanen Händler oder den Kampfzauberer statt konkreter Ausbildungsstätten. Um die Unterschiede zwischen „Repräsentationen“ abzubilden, wird der jeweiligen magischen Profession einfach ein entsprechender Traditionsaufsatz hinzugefügt. Optimaten und Medizinmänner zaubern also ganz anders, auch wenn beide die Profession Wesensbeschwörer haben. Der Kompatibilität zu bestehenden Regularien aus Myranische Magie ist geschuldet, dass hier leider vom Konzept des bisherigen Bandes, sämtliche GP-Kosten auf Vielfache von 5 zu eichen, abgewichen wurde.

Karmale Professionen sind im Band nicht zu finden. So ziemlich jeder Charakter gleich welcher Grundprofession kann mittels des Vorteils Karmatiker oder mittels der Sonderfertigkeit Spätweihe zum Geweihten aufsteigen.

Kreationismus und Kreativität

Am auffälligsten sind natürlich die neuen Vor- und Nachteile zum RasseSpeziesbasteln. Von der Insektenfee bis zum Tentakelmonster ist quasi alles spielbar, was man ins GP-Korsett zwängen kann. Für die unausweichlichen bewaffneten (und waffenlosen) Auseinandersetzungen gibt es dazu auch spezielle Kampfregeln, die ungewöhnliche Gliedmaßenanzahl, Flugfähigkeit und/oder Körpergröße (inkl. Tabelle für alle denkbaren Gegnerkonstellationen) berücksichtigen.

Gesondert erwähnt werden soll an dieser Stelle auch die Sonderfertigkeit Sachkundig, ein gar seltsames Konstrukt. Zunächst scheint es — ganz im Sinne des Bandes — eine Vereinheitlichung solcher SFs wie Fälscher oder Rosstäuscher zu sein. Ein genauerer Blick offenbart dann jedoch zweierlei: Erstens werden die genannten SFs weiterhin separat aufgeführt, zweitens ist der Regelmechanismus bei prinzipieller Ähnlichkeit doch wieder etwas anders.

Fazit

Immer mal wieder hallt der Ruf nach vereinfachten und vereinheitlichten DSA-Regeln durch die Forenlandschaft. Kommt das dabei raus? Ist Wege nach Myranor die Lösung für verkrustete DSA4-Strukturen — oder zumindest ein Schritt in die richtige Richtung? Haben wir hier vielleicht gar den Prototyp für DSA5 vorliegen, mal wieder Myranor als Exerzierfeld für eine neue Regeledition? Die magischen Professionen in der Dunkle Zeiten Box gingen ja schon in eine ähnliche Richtung.

Wie dem auch sei, der Band macht vieles richtig. Die Kürzungen sind wohlbegründet und sinnvoll, wenn auch vor allem im Bereich der Kulturen erst mit Unter dem Sternenpfeiler das Miezekätzchen zu seinem liebgewonnenen Milchkännchen kommt. Dem einmal eingeschlagenen Pfad der offenen Konzeption Myranors folgt das Generierungs-Regelwerk weitgehend treu und durchgängig; Kompromisse macht es nur bei relativ jungen, noch erhältlichen Publikationen wie etwa bei Myranische Magie hinsichtlich der Professionskosten; Verwirrung stiftet es durch eine seltsam aufgebaute „Meta-Sonderfertigkeit“ — die trotz der Widersprüchlichkeit zu ihren offensichtlichen Vorbildern eine geniale Idee darstellt; Fehler macht es eher im Detail, wobei die meisten Ungereimtheiten bereits durch die offizielle Errataliste ausgeräumt wurden — es bleiben lediglich Einzelheiten wie Heilsames Schnurren, das bei der Zielgruppe auf taube Ohren stößt, oder Galopp bei Zentauren, das unter der Rubrik „hoffnungslos überteuerte Gabe“ läuft.

Wege nach Myranor ist als Generierungsband klarerweise ein Muss für jeden myranischen Neueinsteiger, der mit eingängigen DSA-Regeln den riesigen Kontinent entdecken kann, ohne sich im Kleinklein zu verlieren. Stammspieler benötigen dieses Buch nicht unbedingt — allerdings nur dank des kostenlosen Upgrades, das es ohne den Band nicht gäbe. Auch lässt sich nicht alles an Neuheiten mit diesem Behelf abdecken, wie etwa die mannigfaltigen neuen Möglichkeiten zur Erschaffung neuer Spezies. Ein Umstieg lohnt sich dank der vielen guten Ideen also auch für alte Hasenmenschen. Selbige Ideen könnten letztendlich auch den einen oder anderen aventurischen Güldenlandfahrer für sich einnehmen, der solche Güter wie die SF Sachkundig oder die Schlechte Eigenschaft Ungeduld in die Heimat importieren möchte. Auf jeden Fall macht der Band Lust, Helden nach diesem System zu generieren und in den Weiten des myranischen Kontinents zu platzieren. Die Möglichkeiten zur Erstellung eigener Spezies dürften jedes Weltenbauers Herz sowieso höher schlagen lassen.

Am Ende leistet sich eines der Einhörner mit einem Zentaur ein Wettrennen zur Neristunutte im nächsten Pardirpuff. Ein anderes durchkämmt auf der Suche nach konkreten Kulturregionen noch immer das komplette in Unter dem Sternenpfeiler beschriebene Gebiet. Die übrigen Einhörner wurden nun mit Nachdruck darauf eingeschworen, den Tittenbonus nicht übermäßig in die Wertung einfließen zu lassen. Somit verbleiben Wege nach Myranor für sein konsistentes Gesamtbild verdiente 7 von 9 Einhörnern.

Mit freundlicher Unterstützung in Form eines Rezensionsexemplars vom Uhrwerk-Verlag.

Über Feyamius

Mein Name ist Daniel und ich spiele seit 1995 DSA, etwa seit dem Umstieg auf DSA4 größtenteils als Meister. Ich bin seit Herbst 2010 ein Nandurion-Blogger und Ansprechpartner für Simias Werkbank.
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10 Antworten zu Wege nach Myranor

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  2. Grinder sagt:

    „Am Ende leistet sich eines der Einhörner mit einem Zentaur ein Wettrennen zur Neristunutte im nächsten Pardirpuff.“
    Findet das wirklich jemand witzig?

  3. Feyamius sagt:

    Oh, da hat sich die Anspielung auf einen Insider reingeschlichen, von dem ich dachte, dass er in der Rezi zu „Tod in Valantia“ stünde. Ohne den ist es wirklich too much, ignoriert den Satz dann bitte einfach, es sei denn, ihr findet ihn trotzdem witzig. 😉

    • Feyamius sagt:

      Mein Gedächtnis trügte mich doch nicht. Der Satz ist eine Anspielung auf: „Und wo wir gerade von Freizügigkeit sprechen: 16 Seiten Bordellbeschreibung wären vermutlich in „Pardir-Puff und Shingwa-Strich: Die imperiale Prostitution“ gut aufgehoben, hier kosten sie jedoch wertvollen Platz.“ (aus Amirwolfs Rezension zu Tod in Valantia)

      Nur für die Nachvollziehbarkeit. 😉

  4. Antorak sagt:

    Ich finde es witzig, ja. *für mehr Pardirpuffs*

  5. Olruk sagt:

    „Am Ende des Bandes findet sich übrigens ein Index, was hier ebenso gesondert Erwähnung finden soll, wie im Impressum extra betont wird, dass er von Uli “die Dunkle Zeiten Box braucht sowas nicht” Lindner höchstselbst stammt. ;)“
    – Muss das sein?
    Ein Index ist dabei, gehört auch rein. Fertig.

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