Rezension: Cthulhu-Compendium

Ph’nglui mglw’nafh Cthulhu R’lyeh wgah’nagl fhtagn! Oder anders formuliert: „In seinem Haus zu R’lyeh wartet der tote Cthulhu träumend.“ So lautet ein zentraler Satz der berühmten Kurzgeschichte „Cthulhus Ruf“. Nicht mit diesem Werk, sondern mit dem Cthulhu-Compendium für DSA5 will ich mich heute beschäftigen. Bei diesem Compendium handelt es sich um eine interessante Erweiterung zum nagelneuen Regelwerk Sandy Petersens Cthulhu-Mythos. Die Erweiterung verwendet zwar DSA5-Regeln, präsentiert allerdings fiktive Völker und Wesenheiten, die man eher auf der Erde als in Aventurien erwarten würde, aber dazu später mehr…

Den Kern des vierzigseitigen Kompendiums bilden zwei neue Spezies oder – altmodisch formuliert – zwei neue Heldentypen. Weiterhin sind neue Zaubersprüche, neue Sonderfertigkeiten, neue Gegenstände und Kreaturen enthalten. Schließlich wird  das Feld der Seelenheilkunde um Hypnose-Regeln erweitert, die als eine Form von Psychotherapie dargestellt werden.

Zu den neuen Spezies gehören die Tcho-Tcho, ein menschenähnliches Volk. Angehörige dieser Spezies sind etwas kleiner als durchschnittliche Menschen, zudem können sie an den Aknenarben erkannt werden, mit denen sie übersät sind. Tcho-Tcho haben ein Gebiss, das ein wenig größer ist als bei gewöhnlichen Menschen. Beim Lesen wird schnell klar, dass es sich um ein sehr exotisches Volk handelt, denn die Tcho-Tcho sind Kannibalen, die sich mit dem Fleisch von kulturschaffenden Lebewesen stärken. Weiterhin fällt auf, dass Tcho-Tcho regeltechnisch sehr starke Charaktere sind. Sie verfügen über eine um 2 Punkte erhöhte Gewandtheit, eine hervorragende Dunkelsicht und eine vollständige Immunität gegenüber Beherrschungszaubern, wobei das auch für Zauber wie den Horriphobus gilt. Powergamer dürfen sich zudem darüber freuen, dass Tcho-Tcho eine grundlegende Geschwindigkeit von 9 haben. Zum Vergleich: Elfen haben 8, Menschen ebenfalls, Zwerge 6. Das ist schon ziemlich heftig!

Typischer Tcho-Tcho? (Bild von Helge C. Balzer)

Als positiv empfinde ich, dass sich Ulisses mit den Tcho-Tcho traut, aus dem DSA-Kanon ein Stück weit auszubrechen. Bei der Rezension von Die Flusslande schrieb ich: „Für kommende Spielhilfen wünschen wir uns zwar die bekannte gute Handwerksqualität, aber auch den Mut, der Community mehr Neues, Anderes, Faszinierendes zu bieten.“ Dies ist mit dem vorliegenden Compendium gelungen. Die Tcho-Tcho sind ein guter Schritt, dem „Kanon“ die Stirn zu bieten. Leider sind dabei ein paar Schnitzer passiert: Zunächst fiel mir auf, dass die Texte zu den Tcho-Tcho fast eins zu eins aus der öffentlich verfügbaren Pathfinder-Datenbank entnommen worden sind. Weiterhin haben sich dabei Übersetzungsfehler eingeschlichen. So liest man beispielsweise: „Der Tcho-Tcho verzehrt ein Stück Fleisch eines lebendigen oder toten Kulturschaffenden. Wenn er dies tut, erhält er 5 temporäre Trefferpunkte…“. Temporäre Treffenpunkte (in diesem Sinne) gibt es natürlich bei Pathfinder bzw. DnD, aber nicht bei DSA. Man könnte es nun gedanklich mit Lebenspunkten ersetzen, daraus ergibt sich aber die Frage, ob es bei 5 bleibt, denn Pathfinder-Charaktere haben mitunter nur 6-12 Trefferpunkte! Hier brauchen wir schleunigst Errata!

Zudem stört mich, dass man aus der Pathfinder-Datenbank zwar die Texte über Kultur und Gesellschaft übernommen hat, nicht aber den Abschnitt zur Frage, wie ein Tcho-Tcho zum Abenteurer wird. Dieser wäre aber wichtig gewesen, denn hier wird beschrieben, dass einige Individuen die grausame Lebensweise ihrer Kultur ablehnen und in die Welt hinausziehen. Die Information ist bedeutsam, denn die Kulturbeschreibung im Kompendium ist so beschaffen, dass man sich den durchschnittlichen Tcho-Tcho als herzlos, verschlagen und rücksichtslos vorstellt und das sind schlechte Voraussetzungen, um Teil einer Heldengruppe zu werden. Hier kommt meine Empfehlung: Wenn man diese Spezies als Heldin oder Held nutzt, dann sollte man mit einem der Cthulhu-DSA-Abenteuer beginnen, also „Schweigen aus Somerrisk“ oder „Das Fieber, das über Selem kam“. Alternativ könnte man ein DSA-Abenteuer auswählen, das vor allem in der Wildnis spielt. So ließe sich diese Spezies sicher gut integrieren.

Die zweite neue Spezies nennt sich „Tiefe Wesen“. Diese Spezies ist so fremdartig, dass sie für Spielende nicht als Charakter wählbar ist. Tiefe Wesen leben teilweise unter Wasser und teilweise an Land. Man könnte sie als frosch- oder fischartig beschreiben, doch es sind im Prinzip humanoide Wesen mit Schuppen, Kiemen und hervorquellenden Augen. Spielbar sind hier Hybride der Tiefen Wesen, also Charaktere, die diese Blutlinie in sich tragen und sogenannte Mythos-Blut-Vorteile erwerben können. Man erschafft sich also zunächst einen normalen Charakter, dem man durch den regeltechnischen Vorteil „Ahnenblut“ zu einem Hybriden macht. Sobald dieser Hybrid dann Erfahrungspunkte sammelt, aktivieren sich weitere Veränderungen, wie animalische Kraft oder elastische Haut. Konzeptuell eine stimmige Idee, doch auch hier haben sich Fehler eingeschlichen, zum Beispiel: Das mögliche Erlernen der Seesprache wird korrekt beschrieben, aber exakt dieselbe Beschreibung taucht auch auf, wenn es um die besondere „Macht des Sternengezüchts“ geht. Hier ging per Copy-and-paste wohl etwas schief. Zudem sind manche Aussagen seltsam bzw. unlogisch: „Der Held erhält eine Resistenz gegen profanen Schaden. Durch profane Angriffe verursachte TP gegen ein Auge werden halbiert.“ (S. 39) Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll.

Auf 12 Seiten findet man neue Zauber sowie Zaubererweiterungen. Viel spannender finde ich allerdings die Regeln zur Hypnose, die darauf folgen. Diese beziehen sich direkt auf die sogenannten „Wahnsinnsregeln“, die man im Hauptband nachlesen kann. Ziel der Wahnsinnsregeln ist, das Konzept der geistigen Stabilität vom Cthulhu-Rollenspiel auf DSA5 zu übertragen. Denn: Cthulhu steht für Horror und Helden müssen z. B. eine Probe auf Willenskraft würfeln, wenn sie Schockierendes sehen oder Mythos-Kreaturen begegnen. Geschockte Charaktere erleiden nach und nach Stufen des Wahnsinns, die nun dank Hypnose geheilt oder reduziert werden können. Ist unter den Spielenden ein fähiger Hypnotiseur, kann dies zu Szenen führen, die am Spieltisch für eine einzigartige Atmosphäre sorgen, daher überzeugt mich das Konzept dieser Optionalregeln.

Das Ältere Zeichen ist der ultimative Schutz gegen die Wesen jenseits der Sphären. (Cover des Heidelberger Spieleverlags)

Bei den neuen Gegenständen fiel mir der Teekessel für Assassinen auf: Sitzen beispielsweise vier Personen am Tisch, kann man damit eine einzelne Person vergiften, während alle anderen normalen Tee erhalten. Interessant sind auch die Oculus-Flaschen, die jeweils einen konservierten Augapfel enthalten und wie Zaubertränke wirken. Neu ist auch der Sphärenatlas, ein sogenanntes Mythos-Buch. Der Sphärenatlas ist somit ein Lehrwerk, um Mythos-Zauberfertigkeiten zu erwerben, wie zum Beispiel das „Ältere Zeichen“. Das Ältere Zeichen ist geradezu ikonisch für Cthulhu und sollte Fans von H.P. Lovecraft ein Begriff sein. Anschließend werden im Compendium die neuen NSC bzw. die neuen Monster thematisiert. Hier tauchen erneut die Tcho-Tcho und die Tiefen Wesen auf. Beide bieten für die Spielleitung gutes Material für die Konzeption von Antagonisten. Ich finde dies erfrischend, da ich als Spieler schon viel zu oft Kultisten des Namenlosen und Dämonen-Paktierer bekämpft habe. Die neue Wesen geben dem Ganzen jetzt eine neue Facette hinzu. Hinzu kommt: Es sind endlich mal starke bzw. mächtige Gegenspieler, denn die Kultisten aus dem Aventurischen Almanach (um nur ein Beispiel zu nennen) sind regeltechnisch äußerst schwach, wenn man sie mit Spielercharakteren vergleicht, die schon drei oder vier Abenteuer hinter sich haben.

Inhaltlich abgeschlossen wird das Compendium mit Vater Dagon und Mutter Hydra. Das sind zwei gigantische, epische Wesen, die man sich als Halbgötter vorstellen muss. Sie leben weitestgehend unter Wasser und haben jeweils eine Größe von ca. 25 Schritt. Die Tatsache, dass hier vollständige Kampfwerte angegeben werden, finde ich persönlich absurd, denn Dagon hat beispielsweise 1000 Lebenspunkte und Rüstungsschutz 8! Obwohl mich diese Fixierung auf Kampfwerte stört, fallen mir sofort viele Anknüpfungspunkte zu Aventurien ein. Der Band Havena – Versunkene Geheimnisse drängt sich hier schon fast auf, denn mit Lata und Yo’Nahoh leben in der Region prinzipiell ähnliche Wesen. Im Rahmen einer Storyline könnte z.B. Mutter Hydra die Drachenschildkröte Lata unbemerkt ausschalten oder den Efferd-Kult infiltrieren. Dies steht so nicht im Compendium, würde aber eine für mich spannende Verknüpfung darstellen.

Fazit

Positiv am vorliegenden Werk ist der Mut der DSA-Redaktion, diesen Band herauszubringen. Einige DSA-Spieler*innen wünschen sich natürlich „ihr Aventurien“ wie einen gemütlichen Rückzugsort, an dem man alles kennt und das konsumiert, was man immer wieder bekommt. Ich hingegen bin klar für Abwechslung, für Vielfalt und Varianz. Somit begrüße ich diesen Schritt, den teilweise festgefahrenen Kanon ein Stück weit aufzubohren. Schade ist jedoch, dass beim Chtulhu-Compendium mehrere handwerkliche Unsauberkeiten passiert sind, von denen ich einige oben benannt habe. Neben den kleinen Übersetzungsfehlern stört mich weiterhin die seltsame Strukturierung des Compendiums. Als Beispiel ist zu nennen: Der zentrale Vorteil „Mythos-Blut“ steht auf der Innenseite des Covers (also quasi auf S. 0), fehlt aber im Kapitel „Neue Vorteile“, welches auf Seite 10/11 zu finden ist. Die eher unwichtigen Zaubererweiterungen erhalten mit 9 Seiten sehr viel Raum, während Fragen wie „Wodurch wird ein Tcho-Tcho zum Abenteurer?“ (s.o.) keinen Platz fanden. Dadurch wirkt das Compendium teilweise, als wäre es erst im letzten Augenblick fertig geworden, so dass kaum Zeit für ein Lektorat blieb. Somit kann ich für das Compendium nur 5 von 9 Punkten vergeben. Ich hätte gerne mehr vergeben, da mir die prinzipielle Zielrichtung sehr gefällt, aber die verschiedenen Kritikpunkte machen eine höhere Wertung leider unmöglich. Abschließend verbleibe ich mit folgendem Appell an die Redaktion und die Spielenden: Beißt euch nicht am Kanon fest und habt den Mut, DSA auch mal anders zu spielen!

Das vorliegende Compendium ist Teil des Meisterschirmsets „Wahnnsinn und Verzweiflung“ und kann natürlich auch als PDF bestellt werden. Nandurion dankt der Ulisses Spiele GmbH für das Rezensionsexemplar.

 

Über sirius

Sirius heißt im wahren Leben Moritz und wuchs mitten im Ruhrgebiet auf. Seit Anfang der 90er bereist er nicht nur Aventurien, sondern auch andere fantastische Welten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Pen&Paper, PC-Games, Hörbücher oder Kartenspiele handelt. Unterwegs erkennt man ihn daran, dass er fast immer ein gutes Buch dabei hat, das nicht dem Mainstream entspricht. Von Nerd-Themen, die über DSA hinausgehen, berichtet er auf seinem Blog hochleveln.de
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2 Antworten zu Rezension: Cthulhu-Compendium

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