Eine Rückschau auf die Anfänge von DSA
Es war einmal eine Zeit, in der die Welt noch von der Logik des Ost-West-Konflikts geprägt war, in der Twix noch Raider hieß, in der Computerspiele aus knallbunten Offline-Pixelhaufen bestanden und in der Depeche Mode als wahnsinnig junge und moderne Band galt. Eine Zeit, in der Monopoly ein durchaus innovatives Spiel war, in der Würfel, wie es sich gehörte, sechs Seiten hatten. Eine Zeit, in der Kindsein aus Playmobil und He-Man-Figuren bestand, aus Lego, Märklin und Revell.
In dieser Zeit war das wichtigste Informationsmedium für den materialistisch orientierten Heranwachsenden der sogenannte „Vedes-Katalog“, der jedes Jahr zweimal, pünktlich vor Weihnachten und Ostern, über das verfügbare Sortiment an Spielwaren im kapitalistischen Teil Deutschlands informierte. Sauber getrennt in Mädchen- und Jungenseiten katalogisierte er für uns 80er-Kids Action-Figuren, Brettspiele und Sportgeräte, Atari-Cartridges, ferngesteuerte Roboter und Plastikpanzer. Er war das grundlegende Nachschlagwerk für die Ausarbeitung des traditionellen Weihnachtswunschzettels, der Anfang Dezember jährlich von meinen Eltern rigoros eingefordert wurde.
Bei meinen erzieherisch eher konservativ gepolten Eltern konnte ich Plastikpanzer, He-Man-Monster, ferngesteuerte Todesroboter und auch eine Atarikonsole getrost vergessen. Sie landeten im Jahre 1985 längst nicht mehr auf meiner Liste, und ich sah mich nach anderen Wunschobjekten um, die meine bereits durchaus nerdophile Neigung ansprachen. Und so passierte es. Ein grundsätzlich interessantes Spieleboxcover in besagtem Katalog fing meine Aufmerksamkeit ein. Muskulöser Schwertschwinger und hupfdohliges Zaubergirl verteidigen sich gegen kolossale Flugsaurier. Cool! Was war das? Das Abenteuer Basis-Spiel. Sperriger Titel. „Grundausrüstung für alle Abenteuer“. Ausrüstung? Was zum ..? Und darunter: „Das Schwarze Auge – Fantastische Fantasiespiele“.
Dämlicher konnte man aus der heutigen Rückschau eine Rollenspielschachtel kaum beschriften. Trotz der hirnverbrannten Artikelbeschreibung gelangte die Schachtel aus einer Laune heraus ins obere Drittel des Wunschzettels (er ist leider im Nebel der Zeit verschollen) und aus einer ebensolchen Laune heraus in die Weihnachtsgeschenktüte meiner Eltern und letztendlich ins Geschenkpapier.
24. Dezember 1985. Aus dem wie immer recht respektlos beiseitegerupften Papier entfaltet sich ein sauber in Plastik eingeschweißter dunkler kleiner Karton mit dem bereits bekannten Cover. Beim Öffnen riecht es nach frisch bedrucktem Papier. Zwei dünne schwarze Heftchen, ein seltsam geformter Pappaufsteller, ein Block mit gelblichen Formularen. Dazu drei Würfel und ein weitaus seltsameres Vieleck mit Zahlen darauf. Und ein Bleistift. Doch mit dem Öffnen dieser Schachtel öffnete sich für den stolzen Neubesitzer des Abenteuer-Basis-Spiels gleichzeitig eine neue Welt.
Schon nach kurzem Anblättern der Seiten nahmen die Heftchen mein Herz für sich ein. Besonders angetan hatten es mir eine Seite mit schön gezeichneten Waffen und Rüstungen (Waffen waren IMMER gut) und eine Zusammenstellung einiger Monster (was zur Hölle ist bitte schön ein „Goblin“? Und warum heißt der Drache nicht „Drache“? Ach, egal). Am zweiten oder dritten Weihnachtsfeiertag wurde Graubarts Haus durchsucht (mit Alrik dem Abenteurer), nun brauchte man für Silvanas anstehende Befreiung vor allem eins: Mitspieler.
Erste Versuche, das Schwarze Auge mit meinem kleinen Bruder und meinen Eltern zu spielen, scheiterten grandios, indem meine Mutter zuerst einen Lachkrampf bekam (Was? Ich soll einen Lendenschurz tragen?!? *gacker*) und dann mein Vater meinte, so viel Zeit hätte man ja gar nicht, man brauche ja allein schon 20 Minuten, um so einen komischen Helden zusammenzubasteln. Seufzend gab ich auf, es half nichts: Gleichaltrige mussten her. Und letztendlich waren sie auch zu bekommen, wozu hatte man Schulfreunde aus den Randzonen der sozialen Struktur einer Realschule, so wie man selbst, prädestiniert für den sinistren Pfad ins Nerdoversum.
Hier zeigt sich im Nachhinein, dass die geringe Regeldichte (man halte sich vor Augen: Es gab nicht mal das Talentsystem; Zauber wurden einfach gezaubert, ohne Probe, etc.) auch dazu führte, dass das System locker von einem Dreizehnjährigen an andere Kids vermittelt werden konnte. In der Spielpraxis brauchte es nur Eigenschaftsproben und Kämpfe – Zauberwirkungen waren jeweils recht flott nachschlagbar. Wir waren schnell angefixt – und fingen an, „Schwarzes Auge“ (wir sprachen nie von „De-Es-A“) so oft als möglich zu spielen.
Wie sah nun ein typischer DSA-Nachmittag (zwischen Hausaufgaben und Abendessen) aus? Zunächst einmal musste ein Küchen- oder Esstisch in irgendeinem Haushalt gefunden werden, der belagert werden durfte. Zur Not wich man in ein Kinderzimmer auf den Boden aus, doch dies erwies sich schnell als weniger günstig für ein Würfel- und Schreibspiel. Liebende Mütter sorgten für Saft, Wasser und Süßigkeiten, gelegentlich sogar für Kuchen. Einen W20 hatte man anfänglich nur einmal (den aus der Basisbox), er ging zunächst von Hand zu Hand; später, als sich weitere Mitglieder der Runde auch die Basisbox schenken ließen, hatte man endlich mehrere davon. W6 wurden zu Genüge durch Beutezüge in andere Spieleschachteln requiriert.
Unsere Eltern begegneten dem Ganzen natürlich zunächst mit einer gewissen Befremdung, sahen aber bald durchaus Vorteile in der neu gefundenen Beschäftigung des Nachwuchses. Erstens war er in der Gruppe im Esszimmer in Hör- und Kontrollierweite, zweitens war er beschäftigt ohne zu nerven und drittens kreativ unterwegs – das Urteil „besser, als wenn sie nur vor dem Fernseher hocken“ setzte sich erstaunlich schnell durch.
Im Aventurien-Pleistozän gab es nur einen Spielstil: Powergamer. Mehr Waffen, mehr Lebensenergie, dickere Rüstung, mehr magisches Zeug um noch größere Monster noch besser umbolzen zu können, um danach noch mehr Schätze … und so weiter, man kennt dieses unschlagbare Spielprinzip bis heute zur Genüge. Auf Grundlage dieses Wirkprinzips setzte sich bald folgende typische Gruppenzusammensetzung durch:
- ein Zwerg (wegen der hohen Lebensenergie)
- ein Magier (wegen der Coolness, aber mit heimlichem Bedauern über seine nahkämpferische Schwäche)
- drei Elfen mit Schwert, Kettenhemd und Langbogen (wegen der unschlagbaren Stärke der Kombination)
Helden hatten Waffen und Rüstungen, keinesfalls aber Charakter und Persönlichkeit. So sagte man gerne „Ich spiele gerade einen Zwerg mit Schuppenpanzer und Streitaxt“, aber der Zwerg hatte nie eine Hintergrundgeschichte, Vorlieben oder gar Probleme. Wer käme auf so eine abgefahrene Scheiße!? Aber gerne nehmen wir einen noch besseren Schuppenpanzer ins Portfolio.
Abenteuer wurden hauptsächlich selbst produziert, mangels Angebot und aus Kostengründen. „Abenteuer“ – was für ein überheblicher Begriff für die unzähligen Dungeons voller Schätze, Monster und Rätsel, die um eine fadenscheinige Hintergrundstory gestrickt waren. Meist musste man den Gegenstand X irgendwo finden, um damit Y zu retten, oder den Fiesemöppus Z erschlagen, um damit Y zu retten. Wichtig war jedenfalls, dass Y gerettet werden musste und man dafür eine angemessene Menge Abenteuerpunkte und Schätze einheimste. Als ich am folgenden Osterfest neben Lindhasen und einer Bon-Jovi-Kasette auch noch Den Zug durch das Nebelmoor geschenkt bekam, öffnete sich eine neue Ebene des Spiels: Abenteuer, die im Freien spielten – was für eine Innovation. Die neue Aventurienkarte wurde sofort geplündert, Maraskan, die Eismeerküste und die Zyklopeninseln konzentriert abgepinselt und vergrößert – zum Draufrumlaufen.
Zwar auf fest angelegten Wegen mit Ereignispunkten, aber: draußen. Wie saucool! Wie ein Schwamm sogen wir alles auf, was uns an DSA-Input gegeben wurde, und wir verwursteten es wieder in eigenen kruden Szenarien und Bodenplänen.
Denn das war das Wunderbare an Aventurien vor dem Auseinanderdriften der Kontinente. Es war völlig undefiniert, es war potentiell unendlich groß, alles, was uns einfiel, passte rein, so doof es auch war. Und wir wollten von allem immer mehr! Mehr Monster – mal dir welche und versehe sie mit Werten! Mehr Waffen – durchstöbere Geschichtsbücher, denk dir Werte aus, am besten stark überhöhte!
Mehr Heldentypen – plündere deine Computerspiele, klau dir ein paar beliebte Professionen, übersetze sie nach DSA, denk dir Werte aus! Wir hatten bei uns in der Gruppe Barbaren, Druiden, Barden, Hexen und Gnome, lange bevor sie ihren Weg ins offizielle Aventurien fanden. Auch Ninjas waren darunter. Darauf bin ich heute nicht mehr sehr stolz.
Das Ganze änderte sich etwas, als einige Zeit später das Abenteuer-Ausbau-Spiel seinen Weg in meinen Besitz fand. Aventurien bekam eine Kontur, ein Gesicht, es gab mehr Input, aber auch plötzlich Grenzlinien. Auf unbestimmte Art habe ich das auch als Jugendlicher damals als Verlust empfunden. Andererseits war einiges dabei, was cool war (Druiden, Waldelfen, Geweihte, Gute Attacke, Talentsystem und – endlich! – neue Monster) und es gab auf der Aventurienkarte noch jede Menge weiße Flecken für eigene Ideen. Ich weiß noch, dass ich einen Ingerimm-Geweihten hatte, den ich bis Stufe 18 führte, mein bester Freund hatte gar einen Krieger auf Stufe 21. Abenteuerpunkte und magische Waffen gab es jedenfalls immer reichlich. Auch die Abenteuer wurden anspruchsvoller, der Strom des Verderbens führte uns erstmals das Potential vor Augen, das Meisterfiguren außerhalb der Rollen von Gegner oder Auftraggeber haben können.
Allerdings konnten wir in unserer Jugendlichkeit einige Dinge auch noch nicht richtig nutzen. Denn als kurz darauf die Havena-Box in die Runde einzog, da spürten wir zwar alle, dass damit eine Innovation vor uns lag – aber genutzt haben wir hauptsächlich die Seite mit den neuen Waffen. Tuzakmesser und Ochsenherde wurden nun nach dem Langschwert und der Barbarenstreitaxt zur neuen Lieblingswaffe. Das freie Spiel in einer Stadt überforderte uns aber irgendwie. Sandbox war für uns Jugendliche eine Phase, die wir gerade gottseidank hinter uns gelassen hatten.
Trotz neuer Grenzen blieb die Kreativität grenzenlos. Lange Abende saß ich über dem Versuch, ein eigenes Soloabenteuer zu schreiben. Es gedieh ziemlich weit. Genres wurden systematisch abgedeckt – Abenteuer im ewigen Eis (Unter dem Nordlicht machte es vor), Abenteuer im Dschungel, Abenteuer auf Vulkaninseln … Was Fernsehen und Stadtbibliothek an Inspirationen hergaben, wurde ausgesaugt. DSA war die Lieblingsbeschäftigung, das heißt, neben dem C64 natürlich.
Gestorben wurde damals noch relativ oft und regelkonform. Was sollte es auch, ein Elf war so austauschbar wie der andere, wenn man von den angerafften Abenteuerpunkten absah. Allerdings konnte es auch zu kleinen Dramen kommen, wenn der Tod mit Würfelpech verbunden war. Als der Krieger meines besten Freundes auf der Insel der Risso in einem Sumpfloch versank, redete dieser zwei Wochen nicht mehr mit mir, seinem Meister. Mindestens ebenso sauer war der Rest der Gruppe, weil ich ihnen mit dem Hinweis auf die Natur dieses Abgangs verweigerte, die Leiche zu plündern und – wie sonst althergebrachtes Recht – Artefakte, Heiltränke und Waffen des jüngst Dahingeschiedenen gerecht zwischen den Überlebenden aufzuteilen. Ich habe seitdem auch niemand mehr in einem Sumpfloch versinken lassen …
Wie endeten eigentlich diese wunderbaren Jahre, in denen das Gefühl grenzenloser Freiheit mit dem Zauber des Anfangs verbunden war? Das Leben trug uns weiter, und es trug DSA weiter. Ich weiß noch, dass ich regelrecht enttäuscht war, als ein Mitspieler eines Tages triumphierend das „neue Schwarze Auge“ heranschleppte – DSA 2 war geboren, und ich fand’s scheiße. Was sollte ich mit Heldentypen wie einem „Nivesen“ oder einem „Moha“ anfangen? Was kam als nächstes – der Hatutlapitschi oder ein Zuckerbäcker als Held? Wo waren all die Zwerge und Elfen hin? Wir fingen an, eine zeitlang als Ersatzdroge intensiv AD&D zu spielen, was unsere Jagd- und Sammelleidenschaft noch eher befriedigte. Dann nahm das Leben uns mit. Die Kumpels gingen nach der mittleren Reife in die Lehre und schraubten an Mopeds herum, ich selbst machte auf dem Gymnasium weiter, und bald waren Samstags Technoraves und Cola-Eckes deutlich wichtiger, als die jüngst zerbrochene Schwarze-Auge-Gruppe. Die alten Boxen staubten ein wenig ein, dann ziemlich und landeten irgendwann Anfang der 90er im Keller. Die G7 habe ich über Studium, Frauen und Bier verpasst – das war aber als Ersatzdroge immerhin besser als AD&D …
Erst als fortgeschrittener Student kam ich wieder in eine Rollenspielgruppe, und dann hatte sich das Spiel an sich bereits massiv gewandelt. Wir spielten plötzlich „Charaktere“ mit einem Hintergrund, einer Story, einer Entwicklung. Jede Figur verhielt sich irgendwie anders. Abenteuer waren offener und freier, Dungeons gab es nur noch gelegentlich. Rollenspiele waren erwachsen geworden – wie wir auch, irgendwie zumindest, für Nerds halt – relativ erwachsen. Wir passten wieder mit dem Spiel zusammen. Der Powergamer wurde vom Simulationsfreak, vom Regelfuchs, von der Dramaqueen abgelöst, und bleibt bis heute in meinem Verständnis ein Synonym für einen eher pubertären Spielansatz.
Und dennoch – der Abglanz dieses Zaubers vom Anfang blieb bestehen. Überflimmert vom milden Licht der Nostalgie erscheinen mir auch heute noch unsere ersten Schritte im Bereich des Rollenspiels magisch und wunderbar, so grauenhaft unser Spielstil im Nachhinein auch war. Es waren die Schritte eines Träumenden, der staunend in ein fantastisches, unendliches Reich der Wunder tritt, in dem alles wahr werden kann, was er sich erträumt.
Es hält bis heute an.
Ausleitung:
In der Gegenwart hat sich unser Spiel und das Bild vom Spiel massiv gewandelt. Bier statt Saft, Pizza statt Kuchen, Modifikator statt Saft-Kraft-Monstermacht, Hardcover statt Heftklammer, DSA-Schrank statt DSA-Schachtel, GNS statt Waffenporno. Manchmal tun wir so, als wäre unser Spiel eine Kunst, eine Wissenschaft, eine abstrakte Theorie. Und dennoch: Irgendwo tief drinnen ist es immer noch … einfach ein geiles Spiel.
Spielt weiter da draußen!