Bei einem Roman zu einem aventurischen Großereignis wie der Zerstörung der Hochelfenstadt Tie’Shianna sind die Erwartungen zurecht hoch, insbesondere, wenn es sich beim Autor um ein langjähriges Mitglied der DSA-Redaktion wie Florian Don-Schauen handelt. Da ich dessen Vorgängerroman „Das Ferdoker Pergament“ aufgrund von zahlreichen Detailfehlern irgendwann entnervt aus der Hand gelegt hatte, sah ich der Lektüre dieses Bandes mit einiger Skepsis entgegen. Insgesamt zu Unrecht, wie sich zu meiner Freude herausgestellt hat. Auch wenn „Tie’Shianna. Der Untergang der Hochelfen“ den DSA-Roman nicht neu erfindet und auch mit einigen Schwächen zu kämpfen hat, weiß der Roman insgesamt durchaus einige Stunden angenehmer Lektüre zu bereiten. Aber gehen wir der Reihe nach vor.
Die Handlung spielt während der Belagerung Tie’Shiannas durch die Horden des Namenlosen, die sich zum Zeitpunkt der erzählten Geschichte bereits seit ungefähr zehn Jahren abmühen, die vorletzte der elementaren Hochelfenstädte zu vernichten. Warum, erfährt man als Leser nicht. Vermutlich liegt es daran, dass unser Autor in dieser Hinsicht genau so schlau ist wie die dem Untergang geweihten Hochelfen oder die meisten der DSA-Experten und es selbst nicht so genau weiß. Schlimm ist das keineswegs, denn wer während des Zweiten Drachenkriegs aus welchen Gründen wen bekämpft, verrät oder hintergeht, wurde bislang eher im Dunkeln gelassen. Meinetwegen kann es dort auch weiterhin bleiben. Wer sich in dieser Hinsicht Auskunft und Festlegungen erhofft hatte, dürfte jedoch enttäuscht sein. Dem Roman sollte man dies aber nicht ankreiden.
Was man zu erwarten hat, wenn der Güldene sich anschickt, die elementare Stadt des Erzes vom Angesicht Deres zu tilgen, zeigt bereits die erste Szene des Romans, der mit einem Kampf zwischen elfischen Hippogriffenreitern und Ameisenkriegern auf Fluginsekten einsetzt. Hier bekommt man sogleich einen Eindruck vom Flair im Hintergrund der Handlung, denn was phantastische Elemente angeht, werden alle Register gezogen. Auf Seiten der Streiter des Namenlosen finden sich u. a. Trolle in fliegenden Steinschiffen, Dunkelelfen, blaue Mahre, Riesen, gigantische Insekten sowie allerlei sonstige Scheußlichkeiten und dämonisches Gezücht. Auf Seiten der Elfen hingegen begegnet der Leser zum Beispiel Einhörnern, verschiedenen Flugkonstruktionen, elementaren Gewändern, belebten Rüstungen, Orimas Sphärenschiff und natürlich auch den Pferden aus der Welt hinter den Nebeln.
Vor diesem eher geklotzten als gekleckerten Hintergrund erzählt der Roman im Wesentlichen zwei Geschichten, die zum Ende hin ineinander verflochten werden. Der erste Handlungsstrang dreht sich um Iscalleon Hippogriffenreiter, einen hochelfischen Soldaten. Im Nurti-Tempel gelingt es Iscalleon, einen Angriff auf Hochkönig Fenvarien abzuwehren, was ihm einerseits das Vertrauen von Elionai, Tochter Niamh Goldhaars, andererseits aber auch Neid und Missgunst einiger Höflinge einbringt. Besagte Elionai gehört zwar aufgrund ihrer Abkunft eigentlich selbst ebenfalls zum engeren Kreis der Höflinge, interessiert sich aber kaum für deren Belange. Statt in Intrigen stürzt sich Niamhs Tochter lieber in die Kämpfe gegen die Streiter des Namenlosen. Der Handlungsstrang um Iscalleon und Elionai dreht sich nun im Wesentlichen darum, wie diese sich näher kennen lernen, zufällig Zeugen einer Reihe verdächtiger Ereignisse werden und nach Verrätern in Tie’Shianna suchen, wobei sie eine wichtige Entdeckung in Orimas Hinterlassenschaften machen.
Den zweiten Handlungsfaden spinnt Florian Don-Schauen um die Erlebnisse einer jungen Zentaurin namens Aqirea. Deren Stamm wird ungewollt in den Kampf um Tie’Shianna hineingezogen, nachdem Trolle ein elfisches Luftschiff auf der Suche nach einer bestimmten Elfe über dem Stammesgebiet der Zentauren zum Absturz gebracht haben. Trotz wechselseitiger Vorurteile entwickelt sich (etwas zu schnell für mein Verständnis) eine Freundschaft zwischen Aqirea und der gesuchten Elfe, die von der Zentaurin aufgrund einer Armprothese „Silberhand“ genannt wird. Als Silberhand den Stamm schließlich in Richtung Tie’Shianna und auf der Flucht vor den Trollen verlässt, wird sie von der Zentaurin begleitet. Die Zeit drängt, denn die Elfe scheint über wichtige Informationen zu verfügen, die den Bewohnern der Stadt in ihrem Kampf von Nutzen sein könnten. Verstärkung erhält diese Gruppe noch durch den Oheim der jungen Zentaurin, der sich widerwillig mit auf die Reise begibt, um seine Nichte zu beschützen.
Der Roman endet mit der Erstürmung Tie’Shiannas. Eine insgesamt recht düstere Veranstaltung, aber niemand hat gesagt, dass der Untergang elfischer Hochstädte ein Praiostagsspaziergang war. Es wäre sicherlich ein Leichtes gewesen, für den Roman ein „Glück im Unglück“-Ende zu wählen, um den Leser trotzdem mit einem Happy-End zufrieden zu stellen. Ohne zu viel zu verraten, kann ich an dieser Stelle andeuten, dass Florian Don-Schauen diesen Weg nicht gegangen ist. Das Ende ist düster, aber es ist konsequent und mutig und hat mir daher gut gefallen.
Hinweis: Der folgende Absatz ist wg. Spoilergefahr in weißer Schriftfarbe. Zum Lesen bitte markieren!
Eine Warnung sei an dieser Stelle jedoch ebenfalls bereits vorweg genommen. Das Ende des Romans funktioniert allein aufgrund einer Zeitmanipulation. Ich bin alles andere als ein Freund solcher Auflösungen, finde aber, dass der Kunstgriff in diesem Fall recht geschickt eingesetzt wurde. Wer aber mit Zeitbeeinflussung als Handlungselement generell auf Kriegsfuß steht, der wird auch an der hier gewählten Variante nur wenig Freude empfinden.
Soweit also zu Handlungsbogen und Hintergrund. Welchen Eindruck hinterlässt nun die Lektüre?
Soweit ich sehen kann, enthält der Roman keine gravierenden handwerklichen Fehler oder Inkonsistenzen mit dem aventurischen Hintergrund, die einem den Lesespaß vermiesen könnten. Ob dies daran liegt, dass mein Wissen über die kanonischen Setzungen zum Zweiten Drachenkrieg und zum Untergang der Hochelfen lückenhaft ist, vermag ich nicht zu sagen. Hinweise nimmt Ihre lokale Nandurion-Redaktion dankbar zur Kenntnis!
Ein erster echter Schwachpunkt des Romans sind Teile der Handlung, insbesondere derjenige Handlungsfaden, der in Tie’Shianna selbst spielt. Spannung will beim Lesen hier irgendwie nicht so recht aufkommen, auch ist der eigentliche Storybogen eher dünn und in Teilen arg unmotiviert. (Warnung: Wer es vorzieht, meiner Behauptung ohne genauere Überprüfung Glauben zu schenken, weil er möglichst wenig über den Inhalt der Erzählung wissen möchte, der möge den nächsten Absatz nicht markieren).
Einen zentralen Teil des Geschehens um Elionai und Iscalleon könnte man so zusammenfassen: Die beiden erhalten von Niamh den Schlüssel zu Orimas Turm, schauen sich da mal ein wenig um, fragen in der Bibliothek schließlich ins Blaue hinein, ob es hier vielleicht eine geheime Botschaft gibt, und erhalten – na was wohl? – eine geheime Botschaft Orimas. Dass auf diese Idee vorher noch niemand gekommen sein soll, will mir nicht wirklich einleuchten. Mein Eindruck war, dass unserem Autor letztendlich nur wenige Seiten zur Verfügung standen, um die Handlung innerhalb Tie’Shiannas voran zu treiben, weshalb die Geschichte ein wenig (und manchmal auch ein wenig mehr) übers Elfenknie gebrochen wurde.
Fairerweise sollte hinzugefügt werden, dass dies auf den Handlungsstrang um Aqirea und Silberhand nicht in vergleichbarer Weise zutrifft. Auch dieser setzt zwar nicht unbedingt Maßstäbe in Sachen Plotgestaltung, ist aber liebevoll ausgeführt und wird am Ende geschickt mit dem anderen verbunden.
Der Grund dafür, dass der Handlungsbogen in Tie’Shianna ein wenig hinten an stehen muss, ist allerdings ein erfreulicher, denn Florian Don-Schauen nimmt sich viel Platz, um den Lesern ein lebendiges Bild von Tie’Shianna und seinen Bewohnern sowie den Zentauren und ihrer Lebensweise zu vermitteln. Ich schreibe hier bewusst „lebendig“ und nicht „detailliert“, denn bei all dem hält er sich in der Schilderung konkreter Gegebenheiten geschickt zurück. Statt penibel Einzelheiten Tie’Shiannas zu beschreiben und hierbei womöglich mit den Bildern in Konflikt zu geraten, die man sich als Leser mit etwas DSA-Erfahrung vielleicht schon von der Stadt gemacht hat, regt der Text zu eigenen Vorstellungen an, ohne hierbei zu unkonkret zu werden. Daumen hoch für diesen eleganten Ausweg aus einem Dilemma!
Gut gefallen hat mir auch der Einsatz von Perspektivenwechseln (auch wenn etwas weniger davon mehr gewesen wäre). Das Geschehen wird u. a. aus der Sicht Aqireas, Elionais, Iscalleons und des Trolls Bortosch erzählt. So erhalten wir einen interessanten Blick auf die Hochelfen und das Geschehen in der Stadt. Aus Sicht der Zentauren erscheinen Elfen als herrisch, rücksichtslos und manipulativ. Aus der Perspektive Iscalleons und Elionais wird ein aufschlussreicher Blick auf die hochelfische Elite vermittelt, die auch angesichts des drohenden Untergangs der Stadt weiterhin mit Verachtung auf das gemeine Volk herabblickt. Elf hält es selbst zu diesem Zeitpunkt noch für seine vorrangige Aufgabe, über das Wesen der Götter, die Welt und die herausragende Stellung des Elfischen in der Schöpfung zu philosophieren.
Das Elfenbild, das wir so erhalten, zeigt uns eine Gesellschaft, die zu einem gehörigen Teil als verweltlicht, herrisch, arrogant, machtbesessen und ignorant bezeichnet werden kann. Diese Elfen entsprechen kaum unserem ,heutigen‘ Bild, sondern sind überraschend menschlich, oder, anders ausgedrückt: badoc im reinsten Sinne des Wortes. „Tie’Shianna“ beschreibt nicht nur den äußeren Niedergang einer Metropole, sondern auch den geistigen Zerfall einer ehemaligen Hochkultur. Man kann sich nach der Lektüre des Buches ein wenig deutlicher ausmalen, welche Ereignisse sich ins kollektive Bewusstsein der Elfen eingebrannt haben und ihre heutige Haltung zu Welt, Macht, Wissen, Besitz und den Göttern geprägt haben. Insgesamt würde ich die Darstellung der verschiedenen Personengruppen und insbesondere alles Elfischen als zentrale Stärke des Romans bezeichnen (auch wenn, mit Ausnahme der philosophischen Dispute, manche der Dialoge zwischen den dargestellten Elfen etwas vor sich hin plätschern).
Während manche DSA-Romane darunter leiden, dass sie eine passable Geschichte vor einem letztlich austauschbaren Hintergrund erzählen, steht hier das DSA-Besondere eindeutig im Vordergrund. Das ist schön.
Ein mehr als nur kleiner Schönheitsfehler betrifft hingegen die Motivation einer der Hauptpersonen, nämlich Silberhand. (Auch für den Rest dieses Absatzes gilt: Weiße Markierung wg. Spoilergefahr). Silberhand weiß, dass sie Tie’Shianna nicht retten kann, und im Lichte dieses Wissens kann ihr Ziel eigentlich nur sein, die Entscheidungsträger der Stadt davon zu überzeugen, rechtzeitig mit der Evakuierung zu beginnen. Statt dessen scheint Silberhands vorrangiges Ziel jedoch die Enttarnung eines Verräters zu sein, von dem man als Leser nicht erfährt, welche Rolle er letztendlich spielt und warum seine Enttarnung etwas zur Rettung Tie’Shiannas oder der Bevölkerung beitragen sollte. Hier bleibt für meinen Geschmack zu viel im Vagen, um die Motivation einer der Hauptpersonen nachvollziehen zu können, so dass deren Verhalten rückblickend betrachtet ziemlich irrational wirkt. Nun sind spannende Erzählungen mit vollständig vernünftigen Charakteren zwar eher eine Seltenheit, in diesem Fall ergibt sich insgesamt aber kein stimmiges Charakterbild mehr. Das ist unerfreulich, gerade weil Silberhand im Laufe der Erzählung eigentlich als Sympathieträgerin aufgebaut wurde.
Genug gemeckert? Nein, ein paar Zentaurenhaare hab ich in der Romansuppe nach mehrmaligen Umrühren doch noch finden können. Hier sind sie:
Erstens: Es gibt einige sprachliche Fehlgriffe, die auch dem unbesorgten Leser auffallen. „Hirnfurz“ ist m. W. schwäbische Mundart und hat in jedem Fall in elfischen Streitgesprächen nix zu suchen. Auch „Arpeggio“ und „flanieren“ klingen zwar nett, gehören aber eher ins Caféhaus nach Wien denn auf die Prachtstraßen von Tie’Shianna. Dass Elfen nach eigener Vorstellung „Karriere machen“ können, ist zwar schön für sie, in Aventurien aber fehl am Platz, solange die Horasier nicht das Merkantilisten-Magazin herausbringen. Und dass ausgerechnet Niamh Goldhaar keinen besseren Ausdruck für unser aller Lieblingskontinent als „Aventurien“ kennt, will ich auch nicht glauben.
Zweitens: Die Trolle haben mit „Bortosch Sohn des Agalosch“, „Gnorix“, „Tubolosch Sohn des Agalosch“ sowie „Tarbasch Sohn des Bortosch“ für meine Ohren deutlich zu zwergisch klingende Namen. Kein Krallerwatsch Sohn des Krallulatsch oder so dabei? Schon schade.
Drittens und letztens: Aquirea lernt die ihr unbekannte elfische Sprache in einer Geschwindigkeit, die jedem regelversierten Spielleiter die Zornesröte ins Gesicht treiben würde. Und auch derjenige, der nicht die Steigerungsregeln für Wissenstalente im Schlaf herunterbeten kann, dürfte sich hier verwundert die Augen reiben. Mir leuchtet zwar ein, dass Silberhand ab einem bestimmten Punkt der Romanhandlung einen Gesprächspartner braucht, damit der Autor auf diese Weise wichtige Hintergrundinformationen an seinen Leser bringen kann, aber das hätte man sicherlich auch anders lösen können.
Jetzt aber wirklich genug genörgelt. Was bleibt?
Alles in allem hat Florian Don-Schauen einen gut lesbaren Roman über ein wichtiges Ereignis der aventurischen Geschichte geschrieben, der sich weder der Aufklärung eines Mysteriums widmet, noch die Historie bloß als Hintergrund für eine in sich abgeschlossene Geschichte verwendet. Den Mittelweg, den er gewählt hat, wird manch einer gewöhnungsbedürftig finden. Wer jedoch an Einblicken in die hochelfische Kultur und Lebensweise sowie an einem Eindruck vom Untergang einer der faszinierendsten Städte Aventuriens interessiert ist, der kann hier zugreifen. Dies gilt insbesondere, wenn er oder sie den Untergang Tie’Shiannas, wie er auf den Inseln im Nebel miterlebt werden kann, weiter auszugestalten möchte oder an etwas Hintergrund zu hochelfischen Persönlichkeiten wie Niamh und Fenvarien interessiert ist.
In mehrerer Hinsicht bietet der Roman interessantes Ergänzungsmaterial für die frisch neuaufgelegte Phileasson-Kampagne, was streckenweise jedoch zu Lasten der Eigenständigkeit der Erzählung geht. In xeledonischer Stimmung könnte man jetzt überspitzen und sich zu der Aussage hinreißen lassen, es handle sich bei „Tie’Shianna“ letztendlich um eine Spielhilfe in Romanform. Da heute aber ein gemütlicher Sonntagabend ist und der Rezensent die traviagefälligen Freuden von Harmonie, Familie und Herdfeuer genießt, begnügt er sich mit dem Hinweis, dass 5 von 9 Einhörnern den Untergang der Stadt heil überstanden haben und an dieser Stelle für das Wertungsportrait posieren können.
Eine in allen Einzelpunkten sehr treffende Rezension, nur in der Gesamtwertung blieb mir ein etwas positivereres Bild.