„Hinterm Horizont geht’s weiter
ein neuer Tag
hinterm Horizont immer weiter
zusammen sind wir stark!
Das mit uns ging so tief rein
das kann nie zu Ende sein
sowas Großes geht nicht einfach so vorbei!“
(Odius von Hügellinde, Skalde, Ode an Harika)
Myranor war für mich lange Zeit ein Buch mit sieben Siegeln. Auf die erste Box zum Westkontinent, die ja schon im Jahr 2000 erschien, wurde ich erst 2003 aufmerksam, als diese auf der RatCon beim Glücksrad haufenweise als Preis rausging. Der Umstand, mit dem Hybriden aus DSA 3 und 4 eine Mischung aus beiden Systemen zu haben, trug nicht unbedingt zu meinem Interesse bei. Als dann 2006 das Hardcover kam, hatte sich bei mir ein durch internetbezogenes Halbwissen begründetes Vorurteil festgesetzt: Myranor besteht im Wesentlichen aus zig Katzenrassen. Katzen sind gut für Youtube-Videos, spielen mochte ich sie dennoch nicht. Außerdem waren einige der Regeln durch spätere Bücher schon wieder hinfällig – so ein Mift. Trotzdem hat das Güldenland mich in der letzten Zeit und spätestens nach der diesjährigen RatCon wieder neugierig gemacht. Insgesamt scheint der Kontinent beim näheren Hinschauen nicht nur eine Fortsetzung Aventuriens mit feliden Mitteln zu sein, sondern sich einen eigenen Stil zuzulegen. Grund genug, mal ein genaueres Auge auf die Kampagne zu werfen, mit der aventurische Helden ihre ersten Schritte in Myranor machen können. Der Fokus soll dabei nicht auf einem Vergleich zwischen dem alten und dem neuen Material liegen, sondern darauf, wie sich die Kampagne Spielern präsentiert, die noch keine Erfahrungen mit Myranor gemacht haben. Mit anderen Worten: Ist Jenseits des Horizonts ein guter Einstieg ins Güldenland?
(Um sich ein wenig aufs myranische Flair einzustimmen, kann ich sehr die Musik von Ralf Kurtsiefer empfehlen (Josch spottete). Dazu ist eine längere Hörprobe online.)
Spoilerwarnung: Auch wenn ich versuche, nicht das gesamte Abenteuer aufzurollen, werden doch einige Punkte in der Rezension genannt. Wer sich den Spaß am Abenteuer nicht verderben möchte, sollte daher nicht weiterlesen.
Konzept
Jenseits des Hoizonts ist eine Zusammenfassung von bisher über knapp zwei Dutzend Produkten verteilten Abenteuern und Szenarien. Diese hatten, auch weil sie von 2000 bis 2008 über einen sehr großen Zeitraum erschienen, einen sehr gestückelten Charakter. Die Abenteuer in einem Band zusammenzuführen, die Handlungsstränge anzupassen und das Ganze auf den Regelstand von DSA 4.1 zu bringen, war das Ziel der Autoren.
Die Umsetzung des Abenteuers ist lobenswert gut. Wo andere Abenteuer das Problem haben, dass sie nur mit quaderweise Zusatzmaterial funktionieren und immer wieder an zentralen Stellen auf andere Publikationen verweisen, liefert Jenseits des Horizonts alle wichtigen Informationen mit. So werden schon im Text die verschiedenen Regionen und Städte kurz vorgestellt, ohne zuviel Raum einzunehmen. Sehr vorbildlich ist auch der umfangreiche Anfang. Die wichtigsten Personen kommen jeweils am Ende des jeweiligen Abenteuers vor, die Besatzung der Schiffe wird im Anhang vorgestellt. Zusätzlich zu diesem obligatorischen Service bekommt der geneigte Leser hier auch kurze Vorstellungen von myranischen Rassen und Kulturen, generischen Gegnern für die Kampagne, Kreaturen Myranors (Glück gehabt: Kein Alpschmeichler weit und breit zu sehen), ausführlichen Plänen und Beschreibungen der Expeditionsschiffe und eine Spielhilfe für die Zeit auf See geboten. Hier sind die Personenbeschreibungen nochmal herauszustellen. Gerade weil in der Kampagne viel Zeit auf Schiffen verbracht wird, ist es wichtig, dort gut beschriebene und einprägsame Meisterpersonen zur Hand zu haben. Und dieser Teil ist sehr gut gelungen: Von der Roten Harika, die alle guten Merkmale von Seeräuberromantik in sich vereint (Entdeckergeist, Hemdsärmleligkeit, Hang zur Demokratie, Meisterin der Säbel) über den zerstreuten Magier Lysvalis bis hin zum in blaugrüne Fantasieuniform gekleideten Klabauter Nekkomak ist ein bunter Haufen vorhanden.
Damit ist der Anhang aber noch nicht abgeschlossen. Auch eine Preisliste myranischer Waren (die zumindest bei manchen Waffen nicht hilfreich ist, da nur der Preis und das Gewicht dastehen und ich nicht weiß, ob ich jetzt einen Krummsäbel oder eine Katze am Stock kaufe), ein myranischer Kalender und ein Glossar von güldenländischen Begriffen runden den Band ab. Als ich dachte, eine Myranorkarte mit der Reiseroute wäre das Sahnehäubchen, fand ich die auch noch. Sehr schön!
Die Zauber aus Myranor, die im Buch vorkommen, können auch ohne Myranische Magie benutzt werden, da ihre jeweiligen Pendants aus Aventurien angegeben werden.
Inhalt
Man spielt Jenseits des Horizonts mit Harika der Roten auf der Seite des Horasreiches. Generell ist eine Änderung in diesem Punkt schwierig, da das Abenteuer davon lebt, dass der Kapitän des Schiffes vorher schon einmal in Myranor war. Dazu bieten sich aber auch Mannschaftsmitglieder Harikas an. Wobei ich die Idee mit der orkischen Kriegsgaleere immer noch interessant finde.
Die Kampagne ist keine reine Entdeckerkampagne. Schon von Anfang an wird auch die hohe politische Bedeutung des Ganzen deutlich: Es geht um Handelsverbindungen ins Güldenland, die Festigung der Großmachtstellung des Horasreiches und zuletzt um eine nicht unbedeutende Menge Endurium.
Die Geschichte ist dabei zu komplex, um sie kurz zusammenzufassen. Letztlich geht es darum, nach Myranor zu kommen, eine große Menge Endurium zu finden, sich während der ganzen Zeit gegnerischer Übergriffe zu erwehren und nach der Klärung der Identitätsprobleme der Lamea wieder zurück nach Aventurien zu kommen.
Die Bandbreite der Abenteuer ist wirklich grandios. Das Abenteuer beginnt mit der Überfahrt nach Myranor, die auch einige kurze Stargate-Einlagen beinhaltet. Danach haben wir Tauchfahrten mit einem Demergator (U-Boot) der Nequaner, die mit der Erkundung eines unterseeischen Bauwerks endet, in dem sie eine riesige Krabbe aus längst vergangenen Zeiten finden. In einem weiteren Abenteuer legen sich die Helden mit einem Kult des Namenlosen an, der in seiner Kultstätte „einige hundert Getreue“ versammelt hat. Hier zeigt sich auch, dass in Myranor von der Größe her teilweise anders gedacht wird. In Aventurien wäre es vermutlich eine Gruppe von drei Kultisten gewesen, die von Berwin Rübenfein in Avestreu angeführt werden, in Myranor herrschen da andere Maßstäbe. Ist das besser als Aventurien? Nicht unbedingt. Es ist aber auf jeden Fall erfrischend anders. Weiterhin gilt es, Heilung für Harikas Krankheit zu finden, Prophezeiungen zu entschlüsseln, eine Runde „pimp-my-ship“ (Ey, so kommst du aber net zurück nach Aventurien) zu spielen, einen Riesen zu überlisten, die Horasiade (eine Art olympische Spiele) zu gewinnen, klassische Stadtabenteuer zu überstehen und ungesehen durch die Meere zu kreuzen, um so wieder einen Rückweg in die horasische Heimat zu finden. Mein kleiner Höhepunkt ist dabei der Einbruch in eine Werft, bei dem ein Schiff zerstört werden muss. Schön sind hier alle örtlichen Gegebenheiten wie der Wachwechsel, Alarmpläne und verschiedene Vorgehensweisen skizziert, um aus diesem Zwischenspiel eine Mini-Sandbox im besten Sinne zu machen.
Rein inhaltlich betrachtet ist Jenseits des Horizonts eine Wucht. Selten habe ich beim Lesen eines Abenteuers soviel Spaß gehabt. Obwohl mir Myranor immer noch ein fremder Kontinent ist, bauen sich die passenden Bilder im Kopf auf. Und ich möchte dort spielen.
Ausarbeitung
272 Seiten sind sehr umfangreich. Trotzdem zeigt sich beim Lesen, dass diese Kampagne noch wesentlich mehr Platz benötigt hätte. Zwischen den verschiedenen Abenteuern, die sich über 7 (!) aventurische Jahre erstrecken, werden auch immer wieder kleine Vorschläge für Zwischenabenteuer gemacht. Das, was hier teilweise in zehn Zeilen vorgeschlagen wird, wäre oft schon ein eigenes ausgearbeitetes Abenteuer wert. Das Problem der ganzen Kampagne ist, dass nicht nur die Zwischenspiele so fragmentarisch sind, sondern auch die Abenteuer an vielen Stellen eher skizziert als ausgearbeitet sind. Als Beispiel möchte ich noch einmal den Kult des Namenlosen in Daranel heranziehen. Ein Abenteuerteil mit viel Potenzial, der auf 3 ½ Seiten abgehandelt wird. Betrachtet man den Band so, stellt sich mir die Frage: Wer soll das alles spielen? Hier gilt natürlich Mut zur Lücke, sicherlich kann man auch einige Teile auslassen. Wer aber die Abenteuer ausspielen möchte, ohne in „Ihr verlasst den Hafen – An der Ecke schaut euch ein Kerl seltsam an – Er weiß, wo die Kultisten sind – Ihr seid da – Es kommt zum Kampf – Ihr gewinnt“ zu verfallen, wird an Jenseits des Horizonts vermutlich ebenso lange wie an der Borbaradkampagne sitzen. Leider ist die Gliederung des Textes innerhalb der Abenteuer auch nicht so vorbildlich wie in der Übersicht und den Anhängen. Oftmals muss man sich wichtige Informationen aus einem ellenlangen Fließtext suchen, die Qualität der Gliederung variiert dabei stark.
Ein Spielleiter, der sich entscheidet, seine Spieler mit dieser Kampagne von Aventurien ins Güldenland zu schicken, hat also noch viel Arbeit vor sich. Jenseits des Horizonts lässt sich meiner Einschätzung nach nur sehr schwer aus dem Buch spielen, dafür wurde einfach zuviel in den bestehenden Platz gezwängt. Die Angabe Komplexität für den Meister „hoch“ ist also mehr als ernst zu nehmen. Wenn man die Kampagne aber als Ideenbaukasten für eine eigene Kampagne in Myrnor nimmt, ist die skizzenhaftigkeit der Abenteuer weniger ein Problem. Nur müsste auch dann die Aufmachung im Text übersichtlicher sein.
Aufmachung
Der Band reiht sich optisch in die bisherigen Myranorpublikationen ein und ist damit auch nah an Produkten für Aventurien dran. Das heißt auch, dass der Schmuckrand übernommen wurde. Nur ist er hier nicht dezent wie sonst bei DSA, sondern ein Muster mit einem dicken schwarzen Linie. Stellt euch vor, eure Tageszeitung hätte an der Seite ein Muster mit einer dicken schwarzen Linie. Stellt euch vor, euer Kochbuch hätte an der Seite ein Muster mit einer dicken schwarzen Linie. Stellt euch vor, Nandurion würde in Zukunft ein Muster mit einer dicken schwarzen Linie um die Artikel legen. Wäre das gut? Nein! Als Bordüre für die Wohnung sieht so etwas vielleicht gut aus. In einem Abenteuer, das ein Gebrauchstext ist, ist so eine Spielerei aber fehl am Platze. Die ohnehin schon sehr vollgepackten Seiten wirken so noch gedrängter. Außerdem bin ich überzeugt, dass das Muster ein Eigenleben entwickelt, wenn man es zu lange anstarrt. Vielleicht taucht dann ein Seemonster aus den grafischen Wellen auf?*
Die Qualität der Bilder ist recht stark schwankend. Einige der alten Bilder haben es in die Neuauflage geschafft, da hätte ich lieber neue gesehen. Die neu gezeichneten Bilder gehen in Ordnung, allerdings sind es aufs Buch verteilt sehr wenige, was zur Folge hat, dass man manchmal seitenlang nur Text hat. Die myranische Atmosphäre, die die Kampagne ausgezeichnet einfängt, kann so leider grafisch nicht durchgängig unterstützt werden.
Fazit
Mit Jenseits des Horizonts ist dem Uhrwerk-Verlag eine gelungene Kampagne für die Einführung nach Myranor gelungen. Inhaltlich ziehen die Abenteuer in ihrer Vielfalt alle Register und können selbst Güldenlandunkundige schnell in das Flair des aventurischen Westkontinentes einführen. Dabei schaffen es die Autoren, wunderbar die Spannung des Neuen zu nutzen, ohne die Kampagne zu einer Sightseeingtour verkommen zu lassen, in der man unbedingt alles Myranische unterbringen müsste. Was meine Befürchtungen betreffend des Katzenanteils in Myranor anbelangt: Unter dem Sternenpfeiler muss nicht in Unter dem Kratzbaum umbenannt werden, zumindest in dieser Kampagne ist dieser Aspekt nicht übermäßig betont.
Was inhaltlich richtig gemacht wird, klappt aber in der Umsetzung leider nicht so gut. Viele Abenteuer sind sehr fragmentarisch ausgearbeitet und im Ablauf durch die Strukturierung der Texte nicht immer übersichtlich präsentiert. Um die Kampagne zu spielen, benötigt man daher einen erfahrenen Spielleiter, der sich auch noch mehr als bei anderen Kampagnen ganz genau überlegt: Was lasse ich raus? Was muss ich noch zusätzlich selbst für die Abenteuer machen?
Mit den relativ wenigen Bildern geht auch eine Möglichkeit verloren, den Text aufzulockern. An einigen Stellen hätte ich mir auch zusätzliche Pläne gewünscht.
Wie ist Jenseits des Horizonts insgesamt zu bewerten? Die Kampagne ist ein wahrer Brocken und auch eine richtige Schatzgrube, was Ideen angeht, wenn man die Vielzahl der Abenteuer betrachtet. Zwar muss selbst viel Arbeit von Seiten des Spielleiters investiert werden, aber dieser Aufwand lohnt sich gewiss. Wer diese Arbeit nicht scheut, ist mit dem Band gut beraten. Alle anderen sollten sich vielleicht eher überlegen, erstmal bei Erscheinen einen Blick auf Unter dem Sternenpfeiler zu werfen, um einen Einblick in Myranor zu bekommen. Für Rollenspieleinsteiger halte ich den Band eher ungeeignet. Wer aber in Aventurien schon einige Erfahrungen gesammelt hat (an solche Leute wendet sich ja der Band) und wen jetzt das Fernweh packt, dürfte mit Jenseits des Horizonts seine Freude haben.
Ein Einhorn wurde in einem unachtsamen Moment vom Schmuckrahmen zerquetscht, eins hängt immer noch mitten im Abenteuer fest, weil es alle Stränge lösen will und ein weiteres hat seine felide Seite entdeckt und in Balan Cantera eine Amauniplastik vornehmen lassen. 6 von 9 Einhörnern haben Gefallen am Güldenland gefunden und freuen sich, dass Myranor nicht nur die Fortsetzung von Aventurien mit anderen Mitteln ist, sondern ein interessanter und eigenständiger Kontinent. Auf gen Westen!
Mit freundlicher Unterstützung in Form eines Rezensionsexemplars vom Uhrwerk-Verlag.
* Habe die Wellen jetzt 10 Minuten angestarrt. Kein Seemonster. Schade.
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