Mit der Hartwurst im Rucksack
Eine Rezension von Vibarts Voice – mit Ergänzungen von Feyamius (in den grauen Kästen)
Achtung: der folgende Artikel kann tatsächlich den einen oder anderen inhaltlichen Spoiler enthalten, auch wenn es sich im Grunde um ein Regelwerk handelt!
Hängt die Machete an den Gürtel, rollt die Peitsche handlich zusammen, drückt den Schlapphut tiefer ins Gesicht. Es geht in dampfende Dschungel und staubige Wüsten, auf eisige Höhen und über unendliche Meere. Ulisses nimmt seine Kunden mit dem jüngst erschienen Wege des Entdeckers gezielt auf eine rollenspieltechnische Reise ins Unbekannte und widmet dem Spiel in der Wildnis einen ganzen roten Wege-Band. Als alter Großstadtmensch habe ich mir trotz wildnistechnischer Unbelecktheit das Bowiemesser zwischen die Zähne geklemmt, und durchforstete die 167 Seiten des Bandes in meiner bekanntermaßen subjektiven Wahrnehmung. Wildniserprobte Erfahrungswerte mit Wege des Entdeckers findet ihr übrigens im WdE-Praxistest von emerald.
Look and feel
Ordentliches Papier, ordentliche Bindung. Zunächst aber mal zum Cover und deshalb … DSA-Rantmodus an:
Es ist eine Tragödie! Ulisses hat sich mit diesem Cover keinen Gefallen getan. Es ist zum Zwerge werfen, denn sowohl handwerklich als auch in der Gestaltung der dargestellten Szene stellt das Cover eine hervorragende Illustration des Grundthemas dar. Alles könnte so schön sein. Wäre da nicht … dieses DING! Es als „Frau“ zu bezeichnen, dazu fehlt mir die Chuzpe, dieser auf geil gefönte Korsettständer, den ich eher in der Geheimvitrine eines japanischen Enddreißiger mit schmierigen Gelüsten als überteuerte Plastikpuppe vermutet hätte, der in U-Bahnstationen mit verschwitzten fünf Yen in der Hand vor dem Gebrauchten-Unterwäsche-Spender herumlungert und des Nachts von Betonbrüsten an Schulmädchen träumt. Lasst es euch gesagt sein, liebes Nerdoversum da draußen, dieses Ding ist keine Frau, ganz egal was euch die schlüpfrigen Ecken des Netzes auch weismachen mögen. Dieses Ding ist eine japanische Otaku-Fantasie aus Hartplastik, die in eine Schmuddelkram-Vitrine gehört, aber nicht – und-da-ist-jetzt-mein-Punkt – nicht, auf keinen Fall, nicht einmal kurzfristig, nach A-ven-tu-ri-en!!! Und was zum Schradocker Schießen ist das da in ihrer – Verzeihung, SEINER – Hand? Diese hässliche Laserpistole, die aussieht, als hätte man vergessene Flash-Gordon-Memorabilia in irgendeinem Studiokarton gefunden, die zu schlecht für die Serie waren? Hat Captain Future einem zweitrangigen Bösewicht seine Waffe abgenommen und diese an Miss Steinkugel-in-der-Bluse weitergereicht? Was soll das sein? Eine Ballestrina? Never ever! Wenn das eine Ballestrina ist, dann ist das DING eine lackierte Rondrastatue! Arrrrghhhh! Geht’s noch!?!
Rantmodus aus. So viel in nüchternen Worten zum Cover. Diese unglückliche Designentscheidung ist jammerschade, da das Coverbild von Marcus Koch ansonsten durch gelungene Farbgebung, dramatisches Lichtspiel und stimmige Szenenwahl glänzt. Seufz …
Ansonsten fällt auf, dass leider die meist ganz gelungenen Illustrationen der Spielhilfe viel zu dunkel geraten sind, was echt ärgerlich ist. Aber offensichtlich gibt es in Polen noch große Restbestände an günstiger Druckerschwärze, so dass alle Szenen nun um Mitternacht spielen. Da mir die Spielhilfe auch als PDF vorliegt, konnte ich nun immerhin erkennen, dass es sich bei dem schwarzlackierten Banktresor von S. 64 & 67 in Wirklichkeit um einen von Tristan Denecke gar nicht so schlecht gezeichneten Rucksack von hinten handelt — und bei genauerer Betrachtung erkennt man sogar, dass es zwei leicht verschiedene sind. Als Illustrator(in) würde ich mich über solche Druckerei-schnitzer – Achtung: Wortspiel – schwarz ärgern.
Auch das Preis-Leistungs-Verhältnis des Bandes zeigt, dass Forschungsexpeditionen eben eine teure Angelegenheit sind. Während man mit Wege der Zauberei noch über 400 Seiten für 39 Euro geliefert bekam, erhält man für die 30 Euro des Entdeckerbandes nur 167 Seiten Inhalt. Aber kommen wir nun zu dem Selbigen:
Vom Tannicht ins Regenwetter: Aufbau und Inhalt
Insgesamt macht WdE einen aufgeräumten und gut durchgeplanten Eindruck. Nach einem kurzen Vorspiel zu allgemeinen Überlegungen zum Thema Wildnisabenteuer folgt eine übersichtliche Abhandlung diverser Regionen und Zonen der aventurischen Wildnis, wo man alles findet, was man in dieser Schublade erwartet: Wälder mit Nadeln und/oder Blättern, Dschungel aller Art, Wüsten, Berge, Eisflächen … Zu jeder Wildnisregion gibt es einen nützlichen Übersichtskasten und 1-3 Seiten zu Bewohnern, Besonderheiten und Problemen für den Reisenden. Bei Gelegenheit werden immer wieder graue Kästen mit weiterführenden Gedanken geliefert. Insgesamt ist alles übersichtlich und wirkt vernünftig. So vernünftig, dass man auch auf keine Überraschungen für die entsprechenden Wildnisgebiete trifft, sondern ein Sumpf sich halt so darstellt, wie man sich einen Sumpf aus rollenspielerischer Sicht vorstellt. Erstes Fazit: Gut gesammelt, nützlich zusammengefasst, nichts, was ich mir nicht auch so ähnlich selbst gebastelt hätte. Nimmt mir die Arbeit jetzt aber ab.
Zum Ende hin wird die Regionenauswahl jedoch … ähm … „exotischer“: Ob ‚in Sumus Leib‘ doch nicht eher ein Dungeon-Abenteuer verspricht, oder ob ‚unter dem Meer‘ eine typische Entdeckerkampagne läuft, könnte man lange diskutieren. Settings wie der Limbus oder eine Feenglobule fallen aber für mich defintiv irgendwie aus dem Schema und gehören eher in die entsprechenden Magiebände. Indiana-Jones und Blütenjungfern passen einfach nicht zusammen.
Der folgende Abschnitt widmet sich dann ganz der Vorbereitung der Expedition und leitet den Hartwurst-Teil der Spielhilfe ein. Hilfreich sind zunächst die Überlegungen, welche Personenkreise bzw. Charaktertypen für eine Expedition überhaupt taugen. Und dann folgen bereits die ersten Regeln, Regeln zur Bibliotheksrecherche, sogar ‚Regeln zum Aushorchen früherer Forscher‘. Wer kennt die Situation am Spieltisch nicht: Zum dritten Mal am Abend muss als zentrales Abenteuerelement ein früherer Forscher ausgehorcht werden, und die Überredenprobe ist einfach zu wenig komplex für diesen Vorgang … Nein, im Ernst: Die Sinnfrage nach bestimmten Regeln darf man sich an dieser Stelle nicht stellen.
Spannenderweise versucht aber Florian Don-Schauen an anderer Stelle auch den Hartwurst-Faktor zu reduzieren, in dem er Ausrüstungsregeln vorstellt, die das Mikromanagement von 15 Werkzeugkästen voll Instrumenten, zweier großer Kisten voll haltbarer Nahrungsmittel, eines kleinen Esels voll Verbrauchsmaterial und 5 Mohaträgern voll Lagerbedarf auf null reduzieren. Alternativ kann man nämlich einfach später während des Spiels auf eine bestimmte Wahrscheinlichkeit würfeln, ob ein gerade benötigter Gegenstand im Expeditionsgepäck vorhanden ist.
Im Prinzip ist das sexy und schlank, entbindet aber auch die Helden von der altbekannten und doch immer wieder spannenden Planung des Reisegepäcks. Natürlich gibt es aber für alle Fans der genauen Simulation ausführlichste Ausrüstungslisten mit allem, was der Outdoor-Shopper begehrt. Es folgen Regeln für das Management von Mannschaften und Untergebenen, Regeln für Reittiere, Regeln für Fortbewegungsmittel … Insgesamt ist WdE ein Paradies für alle, die schon immer mal eine Reise durch die Wildnis am Spieltisch detailliert ausgearbeitet und durchgewürfelt haben wollten.
Danach gibt es im letzten Teil allerhand Situationen, auf die Helden typischerweise in der Wildnis stoßen. Hier habe ich keinen Klassiker vermisst, ob reißender Fluss, ob Schlucht, ob Hunger, ob Krankheit, ob Lagerplatz, ob Lagerfeuer, ob Orientierung, ob Wetter: Don Schauen behandelt alle möglichen und typischen Probleme des Wildnisreisenden, und zwar ausführlich und immer mit detaillierten Regeln zur Lösung der Aufgaben. An sich finde ich das gut, aber überkomplex, so paradox diese Einstellung letztendlich ist. Für alle, die Regeln, Proben und Modifikatoren lieben, ist WdE ein einziges Fest. Uneingeschränkt gut finde ich aber, dass zu vielen Herausforderungen der Wildnis ein Abschnitt geliefert wird, der thematisiert, wie karmales oder astrales Wirken den armen Helden in der grausamen Wildnis helfen kann. Hier wird also der fantastische Charakter Aventuriens in den Rüdiger-Nehberg-Survival-Guide eingearbeitet und so manchem Spieler mit magisch begabtem Helden kann der Abschnitt eine wertvolle Inspirationsquelle für die Anwendung seiner Zauber sein. Auch vermisst habe ich bisher in früheren Publikationen den detaillierten und aufschlussreichen Absatz zur Gestalt der aventurischen-IT-Kartographie auf S. 140. Bedauerlich ist allerdings, dass die mitgelieferten IT-Karten nur als kleine, dunkelgraue Illustrationen auftauchen und nicht als Handout für den Spieltisch beigefügt sind. Auf der anderen Seite hochpositiv: Neue, überarbeitete Regeln zum Kälteschaden, die die bisher sinnlosen Regeln aus Im Bann des Nordlichts ersetzen, die es auf wundersame Weise ermöglichten, mit der richtigen Wollsocken-Kombination durch die Niederhöllen zu wandern, ohne dass einem kalt wurde. Das neue System wirkt auf den ersten Blick richtig gelungen.
Die Spielhilfe endet mit einigen weiteren ‚Regeln im Überblick‘, die grundsätzlich als Expertenregeln gelten. Experte muss man bei dem unübersichtlichen Listencharakter der Seiten auch sein, denn es ist gar nicht so einfach den Spiegelstrich zu finden, der mir jetzt sagt, wie viele Meilen pro Tag ich jetzt mit einem Hundeschlitten auf einem vereisten Knüppeldamm im Sumpf zurücklege. Und wieso ist die Angabe, dass man auf einer gepflasterten Straße zu Fuß 33 Meilen am Tag zurücklegen kann, eine „Expertenregel?“ Irgend etwas habe ich daran nicht verstanden …
Ach ja: Es gibt am Schluss einen Index. Gut so.
Hartwurst mit Fluff schmeckt besser: Das Drumherum
Die große Modifikatorenschlacht in der aventurischen Wildnis wird sehr gefällig in eine — man möchte fast sagen — „Rahmenhandlung“ eingebettet, die zu den besten Flufftexten der letzten Jahre gehört. Man folgt dem hesindegefälligen Studiosus Anagon Birtenbichler auf seinen Reisen mit dem etwas unbeholfenen Meister Xenophil, in denen der weltfremde Studiosus eine Entwicklung zum erfahrenen Wildnisläufer durchmacht, und sich gleichzeitig der willensstarken Studiosa Margalinn nach anfänglicher heftiger Abneigung rahjagefällig nähert. Das ist einfach schön und toll geschrieben, und man freut sich zu Beginn jedes Kapitels darauf, wie es weitergeht mit den beiden; manchmal so, dass man gar keine Lust hat, die ganzen Regeln zu durchdenken, bis man wieder Reisetagebuch lesen darf. Beeindruckend: Das Ende der „Geschichte“ hat es zum ersten Mal geschafft, dass ich bei Regelwerk-Fluff einen Kloß im Hals hatte. Firuns Gesetze sind gnadenlos …
Als weiteres Drumherum muss gesagt werden, dass der Band für DSA-Verhältnisse recht fehlerfrei und gut lektoriert ist, wenn auch nicht klinisch rein. Lob an den Autor. Allerdings gabs bei einigen Zahlen Lektoratsprobleme, so dass nun dort Werte zur Kräutersuche nicht mehr stimmen. Schöner Nebeneffekt: Wenn man sich die Zahl „+6“ merkt, hat man für fast alle Regionen Aventuriens die offizielle Probenerschwernis für das Suchen ‚allgemeiner Kräuter‘ im Hinterkopf. Das tut weh …
Was bleibt am Ende? Das Fazit.
Wer Regeln nach dem DSA-Motto: Ergebnis = (Talentprobe) +6 -3 +2 +1 -2 +1 -1 +3 nicht mag, Hartwürste im Rucksack lieber storytellingmäßig verwaltet und mit dem Talent Wildnisleben in jeder denkbaren Situation super klarkommt, für den ist Wege des Entdeckers eventuell die falsche Spielhilfe. Sie bietet wenig Neues in Bezug auf Inhalte von Wildnisabenteuern, dafür aber viele neue Regelvorschläge. Diese wirken grundsätzlich überlegt und funktionsfähig. Insgesamt ist die Spielhilfe sauber gemacht, schön geschrieben und gut strukturiert. Wer Expeditionen ins Unbekannte detailliert ausspielen will, findet hier also für viele Abende Material.
So, dann wollen wir jetzt doch mal Bilanz ziehen und genau nachrechnen: Drei Punkte gibt’s für umfassende und logisch dokumentierte Wildnisregeln, einen Punkt für eine ausführliche Ausrüstungsliste, zwei für gute Formulierung und ordentliches Lektorat, zwei für allgemeine Struktur, zwei für die Abdeckung vieler denkbarer und abenteuerrelevanter Situationen und einen Sonderpunkt für den Fluff des Jahres. Ein alleinstehendes männliches Einhorn fehlt, weil es sich beim Begaffen des Covers und dem angestrengten Starren auf zu dunkle Bilder die Augen verdorben hat. Schade. Ein weiteres Einhorn hat sich beim Kräutersuchen im Regeldschungel verlaufen, und ein drittes winkt gelangweilt ab, weil WdE zwar gut gemacht, aber nicht unbedingt überlebensnotwendig ist. Dann mal scharf mit allen Modifikatoren gerechnet: 3+1+2+2+2+1-1-1-1 = +6! Was für eine Überraschung! Sechs von neun Einhörnern sind also von der Nützlichkeit der Sache durchaus überzeugt und darüber hinaus glühende Anagon Birtenbichler-Fans. So lob ich’s mir.
P.S.: Ich fordere vehement eine unglaubwürdige Rettung von Anagon und Margalinn und ein Happy End.
Eine großartige, wortgewandte und wundervoll ironische Rezension! Mein Kompliment! Besonders begeistert war ich übrigens von der „kritischen“ Betrachtung der „Laserpistole“ auf dem Cover… Spitze! 🙂
Und der japanischen Vitrinen-Figur. Ich liege noch quer vor Lachen.
Danke für diese schöne und informative Rezension. :o)
Auch wenn ich die Rezensionen hier wirklich schätze und viel Arbeit drin steckt: über den fehlenden Spoiler für „Das Drummherum“ habe ich mich sehr geärgert! Das vorwegnehmen eines erzählerischen Endes ist in den meisten Fällen eher … „ungeschickt“
Natürlich kann eine Rezension immer Spuren von Spoilern enthalten, aber: Wir haben deine Kritik beherzigt und einen Warnhinweis eingebaut!
Sehr schöne Rezension, kann man WdE auch für Expeditionen in den DZ in Aventurien gut nutzen. Es klingt zu mindest so als wäre dem so
Ohne ein ausgesprochener DZ-Kenner zu sein: Das Überqueren einer Schlucht oder die Suche von Kräutern funktioniert zu Zeiten Bosparans sicherlich genau so wie im aktuellen Aventurien.
Danke auch für euer Lob!
Die Ramenstorry ist aber auch Geil 🙂
Um so schwerer wiegt ihr Ende 🙁
Tolle Rezie (und entspricht sogar meinen Fazit ^^; )
WdE habe ich von den Regeln her jetzt nicht wirklich gebraucht, da ich zumeist mit Gruppen spiele, die auf übermässigen Realismus im Rollenspiel nicht so stehen (dafür aber auf ’spielleitergelenkte‘ Schicksalschläge wie Krankheiten ziemlich gut reagieren: sie nehmen sie als Plotelemente wahr). Es sind zwar einige gute Ideen drin, die ich hier und da vielleicht mal zum einsatz bringe, aber seinen wir mal ehrlich, Regel zur Nachtwache? Nuja, wer’s braucht. Die Zeichnungen innen sind für mich der große Makel am Band: Teilweise ist so gut wie nichts zu erkennen weil die Dinger so dunkel sind. Abschließend zum Cover: Ich stehe dazu, das ich zu den Leuten gehöre, die ‚das Ding‘ gut finden. Tatsächlich hat mich der Umstand, das Lara Croft endlich ihren Weg nach Aventurien gefunden hat derart inspiriert, das ich nen kleinen Artikel dazu verfasst habe. Eigentlich fehlte mir auf der anderen Seite beim Tempel nur Aventuriens Version von Indiana Jones. Man kann so ein Cover gut finde ohne auf japanischen Hentai zu stehen, wenn man die mehr als deutliche Anspielung versteht.
Danke für deine aufmunternd wortgewandte Rezension 🙂 … eine Ode für die DSA-Freude
Volle Zustimmung zur Rezension und ich schließe mich dem P. S. an 🙂
> 3+1+2+2+2+1-1-1-1 = +6!
kommt da nur bei mir 8 raus und nicht 6?
Nein, 8 wäre in der Tat das mathematisch korrekte – aber pointenarme – Ergebnis der Rechnung.
Du sagst es, Bruderschwester. 🙂