Einleitung
Hand aufs Kristallherz – nichts langweilt mehr als Rezensionen, die damit beginnen, dass der Rezensent sich für seine eigene Trägheit zu rechtfertigen versucht. („Als seriöser Gutachter spiele ich das Produkt mindestens dreizehn Monate probe, bevor ich mir eine Meinung dazu bilde, daher …“, „Um meine Objektivität zu sichern, meditiere ich vor jedem einzelnen Satz 2W6 Stunden nach zen-buddhistischer Tradition, und deshalb …“, “Ich musste zunächst noch meiner Pflicht vor Gott und der Menschheit nachkommen und mich sechzehn Foren-Seiten lang über DSA5 auslassen.“, „Meine Oma hat den Text gefressen und außerdem ist der Dackel gestorben!“, etc.)
Von daher gestehe ich angesichts von fünf Monaten Abstand zu meinem adventlichen Passierschlag mein vollständiges Scheitern als Rezensent, Nanduriat und menschliches Wesen lieber gleich ein und komme dafür zügig zum Wesentlichen: Was ist nach gründlicher Sichtung des Bandes nun von Tharun – Die Welt der Schwertmeister zu halten? (Viel.) Waren die Befürchtungen betreffend der beigelegten Karte berechtigt? (Ja, *schnief*.) Wurde der Hohlwelt-Globulen-Dualismus aufgelöst? (Nö. Und das ist auch gut so.) Und wieviel extragroße Einhörner auf Fluglibellen gibt es nun am Ende? (Geduld, junge Padawane.) Fragen über Fragen. Machen wir uns also flugs an deren ausführliche Beantwortung.
Ein erster Überblick
Die Geschichte der Tharun-Veröffentlichungen ist eine Geschichte voller Missverständnisse, wenn auch mit einem glücklichen Ende. Sie soll hier aber nicht ein weiteres Mal rekapituliert werden, so dass ich alle Interessierten stattdessen auf die entsprechenden Passagen in der überaus lesenswerten Gastrezension von Kai Lemberg verweise.
Auf insgesamt 276 Seiten in Schwarzweiß bietet uns Tharun – Die Welt der Schwertmeister fast alles, was man jenseits der Regeln zum Spiel in Tharun mit einheimischen und fremdweltlichen Gruppen so braucht. Auffällig ist schon beim ersten Durchblättern die Vorliebe der Autoren für das Gestaltungsmittel Fließtext. Oft habe ich den stärkeren Einsatz der bei DSA traditionell beliebten und bewährten Informationskästen vermisst. Grundsätzlich fällt einem die Orientierung im Buch leicht, teils wirken auf mich die Zuordnungen der Informationen aber wenig intuitiv, zudem kommt es zu einigen unnötigen Wiederholungen. Ein sechsseitiger (großzügig gesetzter) Index ist vorhanden und hat es mir in etwa 2/3 der Fälle auch ermöglicht, passende Textstellen zu finden. Schmerzlich vermisst habe ich hingegen ein Glossar. Gerade angesichts der Vielzahl von Neusprech, mit dem einen jede Fantasyweltbeschreibung pflichtgemäß erst einmal erschlägt, wäre dergleichen doppelplusgut gewesen.
Die Illustrationen sind für mein Empfinden durchgängig mindestens gut geraten und unterstützen das durch die Texte vermittelte Flair. Die Asia-Anspielungen sind, insbesondere im Kapitel zur Gesellschaft Tharuns, unübersehbar, aber alles in allem nicht so dominant, wie man es vermuten oder befürchten könnte. SPOILER ANFANG (Zum Aufdecken markieren!) Wer bspw. lieber das sumurrische Erbe der Tharuner stärker betonen möchte, findet im Text auch genügend optische Anhaltspunkte. SPOILER ENDE
Eine Karte des Reiches Tharun ist dem Band auch beigelegt, aber je weniger Worte wir über diese verlieren, desto besser für alle. Da es aber an irgendeiner Stelle notwendig sein wird und ich verhindern möchte, dass mir hier gleich zu Beginn der Rezension die Aorta platzt, verschiebe ich das Thema erst einmal auf später und hoffe, dass die zwei Tüten Baldriandrops, die ich nebenbei weglutsche, ihre Wirkung entfalten. Bis dahin widmen wir uns zunächst den einzelnen Kapiteln des Bandes sowie ausgesuchten Schwerpunkten.
Einführendes
Los geht’s nach zwei Vorworten mit „Das Mysterium der Inneren Welt.“ Zusammen mit „Ein erster Blick in die Hohlwelt“ bieten diese beiden Teile für den eiligen Leser einen guten Einstieg und einen prägnanten Überblick über die wichtigsten Aspekte Tharuns. Erläutert werden die kosmischen und historischen Hintergründe der Welt, das Wissen der Außenwelt über Tharun sowie die verschiedenen Eigentümlichkeiten der Hohlwelt (eine neue Sonne im Zentrum, die jeden Tag im geregelten Wechsel in acht verschiedenen Farben leuchtet und dann für mehrere Stunden vollständig ausgeschaltet wird; das Fehlen von Jahreszeiten, Sternenhimmel, Himmelsrichtungen, Schatten und von jeder Form von Geschichtsschreibung; die im Vergleich zu Dere deutlich aktiveren Giganten und die ungezügelte Lebenskraft; das besondere Verhältnis Ingerimms zu Tharun und noch mehr).
Ich will da rein!
Als Intermezzo zwischen den beiden einführenden Kapiteln finden wir das Kapitel „Der Weg in die Hohlwelt“, das allerdings passender „Kein Weg in die Hohlwelt“ heißen sollte. Wer hier detaillierte und womöglich sogar ausgearbeitete Hinweise erwartet, wie, wo und warum man von verschiedenen Stellen Deres nach Tharun gelangen kann, wird enttäuscht: Entweder gibt es hier nämlich Berichte über inzwischen verschlossene Wege, oder aber es wird die bloße Möglichkeit bestimmter Zugänge angedeutet, aber nicht weiter ausgeführt. Lediglich in einem Fall findet man einige halbwegs verwertbare Informationen dazu, wie man als Außenstehender nach Tharun gelangen kann.
Hat das Ganze einen tieferen Sinn, oder ist es womöglich nur Zufälligkeiten im Entstehungsprozess geschuldet? Ich weiß es nicht und will nicht unnütz spekulieren. Fakt ist aber, dass Tharun auch (wenn nicht sogar: vor allem) für den Teil der DSA-Spielerschaft von Interesse ist, der Lust darauf hat, die Hohlwelt und ihre Mysterien mit erfahrenen derischen Helden zu erkunden. Von daher empfinde ich es als ungünstig, dass der Band so mit verwertbaren Hinweisen darauf geizt, wie man von Myranor, Aventurien und sonstwo in die Hohlwelt gelangen kann. Dergleichen wird laut Ankündigung wohl an anderer Stelle im Abenteuerband noch nachgereicht, fehlt mir im Weltenband aber dennoch.
Von damals bis heute
Es folgt ein 23-seitiger Abriss über Geschichte, Mythologie und Giganten Tharuns. Für DSA-Mythologen und Kosmologen ist dieser Teil angesichts der Vielzahl von Verbindungen und aufgenommenen losen Fäden eine wahre Freude. Diesen Teil habe ich bestimmt schon fünf Mal gelesen und werde es heute Abend gleich noch einmal tun. Einziger Wermutstropfen in der grünen Fee: die Länge, bzw. genauer: die Kürze. Von mir aus hätten es gerne doppelt so viele Seiten sein können.
Wer ist wer in Tharun?
Für alle diejenigen, die trotz der Hindernisse ihren Weg in die Hohlwelt gefunden haben, bieten die folgenden 68 Seiten einen ausführlichen Überblick über die Gesellschaft Tharuns. Deren Eckdaten sind schnell benannt: Die gesellschaftliche Ordnung Tharuns ist ein rigides Kastensystem. Dessen wesentliche Stützen sind die Azarai (Priester der acht Götter), die Guerai (Kriegerkaste) sowie, als deren Vollendung, die Schwertmeister. Hinzu kommen u.a. die geisha-artigen Mashas, die Numinai (Seefahrerkaste), die mysteriösen Schatten (geheimnisvolle Assassinen und Spezialagenten für die Drecksarbeit), die Zinakai (Richter und Vollstrecker in einem), die Sombrai (Zauberkundige, die verantwortungsvolle und gebilligte Runenmagie betreiben) sowie der überwiegende Teil der Bevölkerung, der in allerlei Brot-und-Butter-Professionen für den Erhalt der Gesellschaft sorgt und zum Dank dafür am Fuße der Hierarchie Platz nehmen darf. Außerhalb der Gesellschaft stehen u. a. diverse Namenlose, die aus verschiedenen Gründen geächtet wurden, die Brigantai (geächtete, aber noch nach Ehrenkodex lebende Rebellen) sowie die Morguai (böse Zauberer, ohne die kein Fantasysetting auskommt, und die mit eigener sowie fremder Lebenskraft zaubern und daher auch die Untotenquote erfüllen). Das alles klingt schon ein wenig wie eine Liste von Kinder-Überraschungsfiguren, so dass zu hoffen ist, dass der Uhrwerk Verlag in absehbarer Zeit Ferroro übernimmt und die Happy Sombrais dann in jedem achten Ei dabei sind.
Aufmerksamen Lesern wird nicht entgangen sein, dass in diesem Teil der Spielhilfe das Quasi-Asia-Flair dominiert, und für Freunde von derlei Anspielungen gibt es nicht nur den Quasi-Samurai und die Quasi-Geisha, sondern auch den Quasi-Ninja, das Ganze zudem kredenzt mit Teezeremonien und anderem Gedöns. Auch die ansehnlichen Illustrationen von Mia Steingräber verstärken diesen Eindruck. Meine Tasse Sencha ist das nicht, und ich würde in meinem Tharun sämtliche Oriental Adventures-Anspielungen eher zurückschrauben. Aber das ist Geschmackssache.
Kleiner Hinweis am Rande: Die häufige Verwendung von „quasi“ im letzten Absatz ergibt sich daraus, dass ich die kulturhistorische Genauigkeit der bemühten Anspielungen nicht seriös beurteilen kann. Was sich Otto-Normaleuropäer an Halbwissen aus Kulturschätzen wie „Der Tod des Teemeisters“, „Im Reich der Sinne“, „The Last Samurai“ und „The Revenge of Shinobi“ aneignen kann, wird hier aber auf die eine oder andere Weise aufgenommen und durch den DSA-Fleischwolf gedreht. So wird am Ende nicht nur die Weisheit des ehrwürdigen maraskanischen Großmeisters Al’Gor Dun Shumwai bestätigt, dass Imitation die ehrlichste Form des Plagiats ist, sondern auch für eine glaubwürdige Integration des importierten Materials in den DSA-Kosmos gesorgt. Wer sich also mit Sorgen plagt, dass Tharun womöglich nur „DSA mit Samurais auf Riesenkäfern“ sein könnte, kann sich beruhigt wieder schlafen legen oder weiter über DSA5 aufregen. Alles halb so schlimm, Bruderschwestern.
Im Blickpunkt: Religion und Zauberei
Unter der Überschrift „Die tharunsche Götterwelt“ wird uns im Rahmen einer insgesamt 33-seitigen Offenbarung ein ausführlicher Überblick über die acht Götter, ihre Geweihten und deren Ansichten gegeben. Im Gegensatz zu unserem Gastrezensenten kann ich hier keine wirkliche Schwäche des Bandes erkennen. Ich empfinde die Beschreibung zwar auch streckenweise als unnötig umständlich, die tharunsche Götterwelt wirkt auf mich beim Lesen aber zugleich bedrohlich, faszinierend und wie ein unverzichtbarer Teil der hier beschriebenen Spielwelt. Dass die Priester der Götter sich in wesentlichen Ansichten und Zielen jenseits aller Differenzen einig zu sein scheinen und vor allem am Erhalt ihrer eigenen Macht sowie der sie begründenden Mythen interessiert sind, tut all dem keinen Abbruch. Zusammen mit den Mysterien und der Geschichte Tharuns machen Götterwelt und Religion für mich den Reiz des Settings aus und prägen dessen Flair in besonderer Weise.
Dasselbe gilt auch für die Runenmagie, die mit zu den interessantesten und reizvollsten Aspekten Tharuns gehört. Ich mag es sehr, wenn die Magie einer Spielwelt mit einer eigenen Hintergrundgeschichte versehen wird. Im Fall von Tharun ist diese Tiefendimension zudem ein echtes Schmuckstück. SPOILER ANFANG Magie wird primär durch Bruchstücke der alten, einst von Ingerimm geschmiedeten Sonne Glost gewirkt. Letztere hatte nach Madas Frevel die Magie der Hohlwelt in sich aufgesogen. Nach Zerstörung des Gestirns durch die Gottheit Arkan’Zin wurden dessen Splitter von nach Tharun eingewanderten Alten als Runensteine ihrer heutigen Funktion zugefügt. SPOILER ENDE Da Runensteine selten sind und nur von ausgewählten Personen verwendet werden dürfen, und da zudem der Einsatz von Magie durch die Priesterschaft nicht gern gesehen und somit häufig reglementiert wird, umgibt die Ausübung von Magie in Tharun das Flair des Besonderen und Geheimnisvollen. Gerade dies ist etwas, das Myranor und Aventurien aufgrund der fortlaufenden astralen Aufrüstungsspirale der letzten 15 Jahre eher abhanden gekommen ist.
Die Beschreibungen der neun Inselreiche
Sehr ausführlich widmet sich dann das nächste Kapitel (Umfang: 116 Seiten) den Beschreibungen der neun Inselreiche, die sich jeweils in verschiedene Archipele gliedern. Von diesen umschließen acht das zentrale Inselreich Tharun, auf dem in der Hauptstadt Tharun der Tharun als Tharun des Reiches Tharun lebt. (Was Einheit von Staat und Person angeht, wirkt Ludwig XIV. im Vergleich wie ein blutiger Amateur.) In den Unterkapiteln „Herrschaft und Schwertmeister“, „Bevölkerung und Sozialstruktur“, „Flora und Fauna“, „Wirtschaft und Handel“, „Religion und Azarai“, „Seefahrt und Numinai“, „Reitkunst und Kymanai“, „Architektur und Künste“ sowie „Geheimnisse und Magie“ gibt es jeweils mehr Informationen. Alles in allem umfassen die neun Inselreiche Tharuns zwar nur 2/3 der Welt, dafür laut Karte in etwa 27.000 x 18.000 Meilen. Das ergibt bereits eine Fläche von 486 Millionen km² (Fläche der Erde zum Vergleich: 510 Millionen km²). Was sich jenseits dessen noch befinden könnte, wird auf knapp zwei Seiten im Anschluss an die Beschreibung der neun Reiche angedeutet.
Die Beschreibung der Neun Reiche ist ohne Zweifel das Herzstück des Weltbandes, lässt mich aber, im Vergleich zu unserem Gastrezensenten, deutlich weniger begeistert und streckenweise auch ein wenig gelangweilt zurück. Ich will dabei gar nicht bestreiten, dass hier Sorge getragen wurde, jedem der Reiche einen individuellen Charakter zu verpassen und dass sich viele der dargebotenen Informationen am Spieltisch auch durchaus als nützlich erweisen dürften. Aber alles in allem wirkt mir dieser Teil manchmal zu ausgewalzt, zu wenig kompakt und teils auch etwas repetitiv. Vieles von dem hier vermittelten Inhalt hätte meines Erachtens auch gut in Form von ausführlichen Übersichtstabellen oder Kästen vermittelt werden können, zumal es angesichts der schieren Größe der hier jeweils beschriebenen Inselreiche (von denen keines unter 3500 x 1800 Meilen groß ist und damit jeweils in etwa die Größenordnung Aventuriens aufweist) eh nur um Inspirationshilfen für den Spielleiter gehen kann.
Auch wenn es zu jedem der beschriebenen Reich eine Passage zu Mysterien mit denkbaren Abenteueraufhängern gibt, enthalten diese für mich insgesamt zu wenig „Deshalb muss ich genau dort mit meiner Gruppe spielen !!!111elf.“-Erlebnisse. Hinzu kommt, dass ich mir gerade bei der Beschreibung der Besonderheiten der einzelnen Reiche einen deutlich stärkeren Bezug zu den tieferen Mysterien der Welt und zu Möglichkeiten gewünscht hätte, mit diesen im Rahmen von Abenteuern zu interagieren.
Natürlich ist das alte Kampagnenkonzept der ursprünglichen Tharunboxen tot – und dies zurecht, denn für jeden, der nicht großzügig mit dem Metatalent Archipelbefreien [= (Zweihandschwerter + Staatskunst + Kriegskunst + Seefahrt + Käferreiten)/5 – 2 x Zechen] arbeiten wollte, erwies sich dies einfach als massiv überambitioniert. Auf der anderen Seite ist Tharun aber nicht wirklich der geeignete Ort für knallharte Lap-Chongerei und rollenspielerisches Kleinklein der Art, wie ich es aus Aventurien kenne und schätze. Von daher eignet sich die Hohlwelt auch nach Verabschiedung des „Wir gegen das Imperium und dessen Pantheon“-Ansatzes vor allem für Heldenspiel und epische Geschichten, die mit den Mysterien dieser Welt interagieren oder politische Umwälzungen auf höherer Ebene mit sich bringen. Gerade was konkrete Anregungen hierfür betrifft, wirkt die Beschreibung der neun Reiche auf mich aber insgesamt etwas schwach und allgemein eher wie die Zusammenfassung von zwanzig Jahren Spiel in Tharun denn wie eine Vorlage für die nächsten zwanzig.
Auch konzeptionell bin ich mit den getroffenen Entscheidungen hier nicht ganz glücklich. Die Reisen zwischen den einzelnen Inseln, und vor allem zwischen den einzelnen Reichen, sind praktisch ein Ding der Unmöglichkeit und dürften in den meisten Fällen das Äquivalent eines Hobbesschen Segeltörns (d. h. einsam, arm, hässlich, brutal und kurz) sein. Von daher hätte ich es am sinnvollsten gefunden, bei der Beschreibung der meisten Reiche kürzer zu treten, dafür ein bis zwei Gebiete ausführlicher zu beschreiben und diese als Ausgangspunkt für eine Kampagne aufzubereiten. Insbesondere die Reiche Memonhab oder Jü hätten sich meines Erachtens gut hierfür geeignet, ebenso wie natürlich auch das Hauptreich Tharun selbst.
Das Kartenelend
Da mir langsam schummrig wird und auch das Gesichtsfeld sich bedrohlich zu verengen beginnt, führt jetzt wohl kein Weg mehr daran vorbei, das zentrale Manko dieses Bandes anzusprechen: die Kartenlage. Kurzum: Die beigelegte Farbkarte Tharuns ist indiskutabel. Die Papierqualität ist mit „dürftig“ noch schmeichelhaft umschrieben, und sollte die Karte bei irgendjemandem mehr als 2W6+6 Spielabende überleben, bekommt diese Person von mir den peniblen Sorgfaltsorden am gewaltfrei gehäkelten Band in Hellblau verliehen.
Hinzu kommt, dass auf dieser A2-Karte nicht weniger als 27.000 x 18.000 Meilen abgebildet werden. Das ist für das konkrete Spiel in etwa so hilfreich wie die Welt-Karte aus dem Diercke-Atlas bei der Vorbereitung einer Cthulhu-Kampagne im Elsass der 20er Jahre. Acht reinkarnierten Einhörnern missfällt das. Im Buch selbst werden zwar bei der Beschreibung der einzelnen Reiche und Archipele Kartenausschnitte noch einmal leicht vergrößert in schwarzweiß abgebildet (wenn auch ohne Maßstab). Angesichts der schieren Größenverhältnisse ist mehr als eine ungefähre Einschätzung der Ausmaße der einzelnen Inseln aber auch hiermit nicht sinnvoll möglich. Eine grobe Karte zumindest einer ausgewählten Stadt, die als Ausgangspunkt für erste Erkundungen in der Hohlwelt dienen kann, habe ich ebenfalls vergeblich gesucht.
Kurzum: Was das dargebotene Kartenmaterial angeht, begeht die Spielhilfe kartographisches Harakiri, das selbst den Aventurischen Atlas im Vergleich quicklebendig erscheinen lässt. Und dies ist auch mein größter Kritikpunkt an diesem Band. Meine Bitte daher an die Verantwortlichen: Bitte sorgt schnell dafür, dass die Welt-Karte in passabler Auflösung als PDF zum Download angeboten wird, dann kann man eine Karte in vernünftiger Größe und Qualität zumindest selbst basteln. Und solltet ihr noch über Zusatzmaterial nachdenken – halbwegs detaillierte Karten zumindest mancher ausgewählter Archipele wären sicherlich auch keine schlechte Idee. Es gibt doch jetzt das schöne neue Uhrwerk-Magazin, da passen in die nächsten Ausgaben doch sicher noch einige rein, oder?
Und ja, ich weiß natürlich, dass es da draußen mindestens ein Dutzend Helden des Nerdalltags gibt, die ohne Weiteres ganze Fantasyreiche an einem Wochenende aus dem Gewand schütteln können und mit der Kartenaskese daher keine ernsten Probleme haben. Aber man möge bitte auch bedenken, dass wer auf Dauer nur für die Herbo Ranfels der Meisterzunft produziert, am Ast sägt, auf dem er sitzt. Nam Myōhō Renge Kyō.
Noch einmal: Mysterien
Nach diesem unaufgeforderten betriebswirtschaftlichen Ratschlag nebst willkürlich gegoogeltem Poser-Zitat lassen wir die Ärgernisse nun aber endgültig hinter uns und schließen lieber mit einem echten Highlight: den Mysterien der Welt, die abschließend noch einmal durch „Tiefere Mysterien Tharuns“ (knapp 16 Seiten) ergänzt werden. Wie schon im Passierschlag geschrieben, spielt der Band vor allem in diesem Bereich seine Stärken voll aus, und allein schon für die Lektüre der entsprechenden Passagen lohnt sich die Anschaffung. Was hier steht, ist handwerklich gut gemacht, für DSA-Hasen der alten Schule ein Augenöffner und überhaupt für jeden, der sich intensiver mit dem DSA-Kosmos beschäftigt, ein Genuss.
Angesichts der Tatsache, dass die Setzungen von heute bekanntermaßen nur der Retcon von morgen sind, kann über die Kanonhaftigkeit und Halbwertzeit alles in diesem Band Niedergelegten natürlich nichts Verbindliches gesagt werden. Aber letztendlich sollte uns das auch egal sein. DSA-Kosmologie ist keine exakte Wissenschaft, und hier bedarf es weniger einer fortlaufenden, konsistenten und einheitlichen Entwicklung, als vielmehr einer Vielzahl von aufregenden Anregungen. Und genau in dieser Hinsicht punktet der Band an jeder Stelle. Thematisiert werden unter anderem: SPOILER ANFANG
- Städte unter Wasser und in den Lüften;
- die besondere Rolle der Giganten in Tharun;
- die verschiedenen Besiedlungen der Hohlwelt im Laufe der Geschichte, insbesondere durch die Sumurrer als Ahnen der heutigen Tharuner und durch die legendären Alten, von denen einer der erste (und bis heute einzige!) Tharun wurde, und denen die Welt die hier herrschende Form der Magie verdankt;
- die zerstörte Sonne Glost als Speicherquelle der Astralkraft nach Madas Frevel und damit gleichsam als Prototyp einer zweiten Zitadelle der Magie;
- die dämonisch/göttliche Doppelnatur Arkan’Zins sowie die Rolle der gefesselten Gigantin Nanurta (aka Nurti);
- Tharuns Rolle als Experimentierfeld und Bastelstube Ingerimms;
- das ewige Mysterium „Hohlwelt vs. Globule“, das allerdings auch hier nicht zugunsten einer Deutung aufgelöst wird. SPOILER ENDE
Fazit
Nach Aventurien, Myranor, Uthuria und dem Riesland steht mit Tharun die inzwischen fünfte Spielwiese des DSA-Universums bereit. Lohnt sich ein Besuch in der Hohlwelt? Sofern man einen Weg hinein findet: Ja, insbesondere dann, wenn man an einer konsistenten, neuartigen und gut in den Dere-Kosmos eingebundenen Spielwelt interessiert ist und Lust darauf hat, diese mit der eigenen Gruppe zu erforschen und hierbei tiefgreifende mythologische und kosmologische Geheimnisse zu entdecken.
Wieviele Einhörner werden einen hierbei begleiten können? Das ist nicht ganz einfach zu beantworten. Zwei Einhörner haben sich wegen fehlender Zugänge und Karten entweder gar nicht erst nach Tharun begeben oder dort direkt nach der Ankunft ins Nirwana verirrt. Ein weiteres ist während der Lektüre der Archipelbeschreibungen einer Überdosis Baldrian erlegen und hat daher die Abreise verpasst. Dessen ungeachtet gelange ich beim abschließenden Zensus nun aber zu einer Gesamtwertung von 7/9. Aber wiesu denn bluss? Wiesu tut er dus? Ganz einfach, und absichtlich ein wenig pathetisch formuliert: In seinen stärksten Momenten zeigt dieser Band einmal mehr, warum das DSA-Universum in seiner Art konkurrenzlos ist und warum nichts mit einem seit 30 Jahren gewachsenen Fantasy-Setting konkurrieren kann, in dem jederzeit unzählige Fäden aufgegriffen, interpretiert, uminterpretiert und neu verknüpft werden können – ganz egal, wie wirr, bunt und verheddert dies auf den ungeübten Betrachter manchmal auch wirken mag. Und deshalb möchte ich dem Autorenteam nicht nur von Herzen danken, sondern zugleich vom Vorrecht des Rezensenten Gebrauch machen, bei Bedarf ausgewählte Einhörner einfach doppelt zu zählen. Vielleicht seh ich aber auch einfach nur doppelt. Egal. Höret auf, daran zu denken und darüber zu sprechen, und es gibt nichts, was ihr darüber nicht wissen könnt, Bruderschwestern. Tsa-Yonahonara.
Mit freundlicher Unterstützung in Form eines Rezensionsexemplars vom Uhrwerk-Verlag.
Pingback: Rezension zu “Die Welt der Schwertmeister” | Nandurion
Vielen Dank für die aufmerksame Lektüre und die sorgfältige Besprechung! Eine Frage sei mit aber gestattet, da es nun schon die zweite Rezension ist, in der die rätselhaften „Somakai“ auftauchen – wo in Arkan’Zins Namen steht der Begriff in dem Band?
@Arne: Wer weiß, vielleicht nirgendwo. Ich gestehe frei, dass mir bei der Niederschrift der Rezension an der Stelle nicht mehr alle Namen auf Anhieb einfielen, und da ich faul war, hatte ich spontan Kai Lembergs Rezension als Glossar zweckentfremdet. Sollte sich der Schelm mit uns an der Stelle einen Spaß erlaubt haben, bin ich ihm auch auf den Leim gegangen 🙂 Sicherheitshalber habe ich den Begriff aber bis auf Weiteres erst einmal entfernt. Mea culpa.
Vielen Dank für die unterhaltsame Rezension und die faire Bewertung, Josch.
Im Regelband „Wege nach Tharun“ wird es übrigens ein Glossar geben und zu den Karten ist für die Zukunft auch etwas geplant.
Keine Ursache ;-
Ich hatte ich das bei Kai schon gefragt, woher dieser Begriff stammt. Ist irgendwie auch schön, wie sich so eine neue Schöpfung dann verselbstständigt.
Ich kann leider auch nicht mehr sagen, woher „Somakai“ stammt. Vielleicht habe ich mich mit dem „Samakai“ vertan und etwas „Sombai“ reingemischt.
Vielleicht wollte ich mich auch nur unbewusst über einen weiteren …kai freuen. 😉
Um den Schwarzen Kai von mir zu weisen: mit einem Glossar wäre das nicht passiert….
Ich hab das auf jeden Fall dankend angenommen, da es ger nicht genug „-ais“ geben kann – ganz wie bei den Orks 🙂
Es muss schon ein …kai sein. Wie bei Uigar Kai, den Uruk-Kai (auch wenn die Mittelländer das Wort offensichtlich falsch schreiben), einem Kaiman oder dem berüchtigten Weißen Khai. Sogar bei den Elfen steht „kai“ für kämpfen.
Ohne K sind das alles nur Weichaier…
Kleiner Nachtrag aus dem Teekästchen, weil gerätselt wurde, wieso es nur so wenig zu den möglichen Übergängen gibt: Das war eine nicht umgehbare Design-Auflage des lizenzgebenden Verlages an den lizenznehmenden Verlag.
Schloss das auch nicht genau lokalisierte und mit real derischen Namen bestückte, aber ansonsten konkret und detailliert beschriebene Orte aus? Sprich: Wäre es nicht trotzdem möglich gewesen, verschiedene Zugänge detailliert zu beschreiben und dann zu sagen: „Wo genau diese auf Dere zu finden sind, bleibt Ihrer meisterlichen Willkür überlassen.“? Das Problem, das ich sehe, ist letztendlich weniger, dass nicht kanonisch festgesetzt wurde, wo Übergänge zu finden sind, sondern dass es wenig Anregungen dafür gibt, wie man sich diese aktuell in etwa vorzustellen hat.
Ich sage es mal diplomatisch: Wir haben versucht, zumindest einige Ideen für weitere potenzielle Übergänge einzustreuen. Sprich: Es ging nicht um Festlegung, sondern die Anzahl der Übergänge.
Ok, dann hätte ich es allerdings günstiger gefunden, wenige (und ggf. dezidiert nicht-kanonische), dafür halbwegs konkret beschriebene Übergänge im Text zu haben. Modell in etwa „Wir treffen keine Setzungen bezüglich der Anzahl und Lokalisierung von Übergängen in Dere, aber hier sind drei konkreter ausformulierte Vorschläge, die Sie als Meister auf Ihrer Derekugel dort postieren können, wo es Ihnen sinnvoll erscheint.“ Vielleicht ließe sich in der Hinsicht ja noch was machen.
Josch, die Autoren haben wirklich rausgeholt, was rauszuholen war. Aber davon ab: Im Sinne der Erfindung scheint die Design-Auflage offensichtlich nicht gewesen zu sein. (Hach, offensichtliches Scheinen! :))
Zur Rezi: Mir sind die Nandurion-Rezis im Allgemeinen ja zu absichtlich lustig gestaltet. Aber den Hobbesschen Segeltörn fand ich richtig klasse. Wirklich!
Danke für die Rezi, Josch.
@Rillenmanni: Das lass ich aus Mangel an unabhängigen Quellen einfach mal so stehen – letztendlich ist es auch egal, weil hier das Produkt bewertet und nicht die Autoren zur Verantwortung gezogen werden sollen.
Vielen Dank auf jeden Fall für das Lob. Unabsichtlich lustig hatte ich übrigens auch mal probiert, das ist für mich aber zu schwer.
„Die feinen Unterschiede, sauber angeordnet in der Pierre-Bourdieu-Gedächtnis-Pyramide.“
Ich habe einen neuen Lieblingsrezensenten! 😀
Ja, man merkt schon, dass er studiert ist. 🙂 Hier und so korrekt den Bourdieu zu bringen, lässt auch mein Soziologenherz hochschlagen.
Vielen Dank – wobei ich den ollen Piere allerdings aus dem Bücherregal meiner WG kannte 🙂
Auch das ehrt Dich! Du hättest die Feinen Unterschiede für ein franz. Kochbuch halten können. Aber Du hast den wahren Wert erkannt – der mE gar nicht so gering ist – und Du hast Dich auf sinnvolle Weise daran erinnert. 🙂
@Rillenmanni: Das lass ich aus Mangel an unabhängigen Quellen einfach mal so stehen – letztendlich ist es auch egal, weil hier das Produkt bewertet und nicht die Autoren zur Verantwortung gezogen werden sollen.
Vielen Dank auf jeden Fall für das Lob. Unabsichtlich lustig hatte ich übrigens auch mal probiert, das ist für mich aber zu schwer.
… und da man im anderen Strang wohl leider nicht mehr antworten kann (weshalb so vorsichtig?):
Die Kritik am Lustigsein auch bitte nicht missverstehen. Es war keine Spitze darin enthalten. Mich persönlich lenkt das in dieser geballten Form ein wenig von der Rezension ab. Das ist alles. Und der Segeltörn war toll. (Und ja, der Bourdieu auch.)
Keine Sorge, hab ich auch nicht als Spitze wahrgenommen – aber so eine Vorlage für einen weiteren schlechten Gag konnte ich mir nicht entgehen lassen 🙂
Was die geballte Form angeht: Dass ausgerechnet die Bourdieu- und Hobbes-Anspielungen auf fruchtbaren Boden fallen, hätte ich nicht wirklich erwartet. Bei denen hatte ich schon ein schlechtes Gewissen wg. Wichtigtuerei.
Dass man da nicht antworten kann liegt daran, dass die Kommentarstruktur nur ein begrenztes Maß an „Verschachtelung“ zulässt, eben weil sich sonst der Zugewinn an Übersichtlichkeit, der durch das Einrücken von Antwort-Kommentaren gewährleistet werden soll, aufgrund der geringen Breite rasch ins Gegenteil verkehren kann. Insofern ist das keineswegs eine wie auch immer geartete Zensurmaßnahme, sondern schlichtweg eine technische Limitierung (und auch gar nicht so dumm). Man kann dann einfach auf den eine Ebene darüber geschriebenen Kommentar antworten (so wie ich es hier versuche), dann sollte das auch mit der korrekten Zuordnung passen. 🙂
Ah, Danke! Ich dachte übrigens an „Moderation“, nicht an „Zensur“. Ja, dass man nicht beliebig antworten kann, habe ich dann auch beim Pierre bemerkt. Und über den LÄSST SICH NICHT STREITEN! 🙂
Uns allen wünsche ich einen wunderschönen Blog- und Forentag! Heissa he! 🙂
Kleine Anmerkung: Die Flächenberechnung des kartografierten Teils von Tharun ist nicht ganz korrekt, da man in diesem Fall nicht einfach Länge mal Breite rechnen kann. Dies würde nur bei einer flachen Welt gehen. Die Breitenangabe in Meilen stimmt in diesem Fall nur für den (gedachten) Äquator. Die Karte ist aber nicht unbedingt dazu gedacht, um modernen, wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen, weswegen derartige Feinheiten dort nicht eingetragen sind. Man kann aber davon ausgehen, dass Tharun – inklusive des nicht kartografierten Teils – etwas kleiner als Dere ist (und auch kleiner als die Erde).