Hinter dem Schirm – Ein Treffen unter Freunden

«Ihr sitzt gemeinsam bei einem Bier im Wirtshaus zum Schwarzen Keiler. Und ihr seid alle Freunde.»
– Aus einer Rollenspielrunde der Frühzeit

Uns Jüngern des Nandus sagt man ja hin und wieder nach, wir seien allzu theoretisch und würden uns nicht den Härten des wahren Leben stellen. Ja, die hiesigen Spötter philosophieren und rezensieren, aber das wirkliche Leben, das findet anderswo statt. Da ich seit einiger Zeit wieder in einer Runde das Schwarze Auge in seiner fünften Edition spiele (und leite) möchte ich in dieser Kolumnenreihe Themen des spielenden Alltags aufgreifen. Dinge, die mich bewegen, aber auch ganz konkrete Fragestellungen aus der Konfrontation mit der fünften Edition und den Einschlägen, die dies hinterlässt. Geplant sind Berichte zum Gruppenmanagement, Regelfragen, aber auch Elemente aus der Box, also aus unserem aktiven Spiel, wie die Vorstellung bestimmter Meisterpersonen oder Hintergründe.

Meine derzeitige Runde besteht aus Spielern, die schon viele Jahre dem Pen & Paper treu geblieben sind, jedoch noch relativ neu in der Welt des Schwarzen Auges sind. Werteoptimierung spielt zumindest für einige Spieler eine große Rolle beim Rollenspiel. In die fünfte Edition wurde hier völlig selbstverständlich gewechselt, da niemand auf den ganzen heißen Scheiß verzichten möchte. Ich selbst habe DSA zuerst in der dritten Edition gespielt, später dann einige Zeit an der vierten Edition herumgeknabbert und dann eine längere Auszeit von Aventurien gehabt, in der ich insbesondere Pathfinder gespielt habe. Nach jahrelangem Monstercrunching ohne rechten Tiefgang bot sich nun in einem neuen Lebensabschnitt mit der fünften Editon eine Chance nach Aventurien zurückzukehren, ohne mich weiter über den Regelkraken der vierten Edition ärgern zu müssen. Abgesehen von den Einsteigern gehöre ich also eigentlich zur idealen Zielgruppe der fünften Edition. Zumindest wenn man der Werbung glauben will.

Doch genug der Vorrede. Nach dieser kurzen Vorstellung starten die Innenansichten des leidenden Meisters mit einer ganz banalen Frage. Die Runde ist zusammengekommen. Irgendein Verrückter hat vorgeschlagen das Schwarze Auge in seiner fünften Edition zu spielen. Doch dann stellt sich die schlichte und doch quälende Frage:

Was wollen wir spielen?

Klar, wir spielen Rollenspiel und ich weiß, dass der da drüben vermutlich einen Elf spielen will, weil er immer Elfen spielt. Über Abenteuer muss sich die Allgemeinheit auch keine großen Gedanken machen, dafür hat man ja seinen eSeL, pardon Meister wollte ich sagen. Nachdem ich mir in meiner Jungend nie Gedanken über die Zusammensetzung einer „Heldengruppe“ gemacht hatte und es in Pathfinder vor allem auf die funktionale Kombination der wandernden Totschläger ankommt, stieß ich nun auf ein unerwartetes Problem. Nachdem eine sehr fokussierte Themengruppe wunderbar funktioniert hatte, stießen wir in der nächsten Kampagne auf das Problem, dass die Spieler-Figuren nicht miteinander harmonierten. Obwohl die Menschen am Spieltisch sich bald ein halbes Leben kennen, gelang es uns nicht die Interessen der Figuren zu einem funktionierenden Gesamtgebilde zu formen. Partikularinteressen und nicht miteinander harmonisierende Konzepte trafen auf eine als Sandbox angelegte Kampagne. Dadurch ergaben sich zu viele Freiheitsgrade und das gemeinsame Spiel scheiterte. Der Theorienschmied würde sagen, die gemeinsame Kreative Agenda fehlte.

Nach dieser interessanten Erfahrung standen wir vor der Herausforderung eine neue Chronik und insbesondere auch neue Figuren zu kreieren. Bislang hatte ich diese beiden Fragen immer getrennt voneinander betrachtet bzw. versucht nacheinander zu beantworten. Wir spielen Mordors Schatten, Anforderungen sind soundso, bastelt euch mal passende Figuren. Das Setting ist Mad Max im Weltraum, ihr bildet die Crew eines Raumschiffs. Wir brauchen mindestens einen der das Ding fliegen kann, der Rest kann meinetwegen entlaufene Massenmörder spielen. Umgekehrt funktioniert das Ganze natürlich auch. Ihr wollt eine Gruppe Söldner spielen, die auf Schwarzpelzbeseitigung spezialisiert ist? Geht klar, euer nächster Auftrag führt euch ins nördliche Weiden. Der Herzog sucht ein paar Verrückte für eine ruhmreiche Kampagne mit minimalen Erfolgsaussichten.

So wirr sahen die Notizen zu zwei Durchläufen im Original aus

All diese Ansätze lösen jedoch nicht das Problem der individuellen Auswahl der Spieler-Figuren. Um dies zu lösen probierten wir nun einen Ansatz aus, der sowohl das Konzept der Kampagne als auch die Idee der Figuren zugleich beleuchtete. Ich war zunächst skeptisch, doch zu meiner Überraschung funktionierte die Idee recht gut. All jenen, denen es schon einmal so ergangen ist wie mir, sei das Vorgehen daher zum Ausprobieren sehr empfohlen.

  1. Die Idee der Chronik wird über ein Stichwort oder einen Satz beschrieben. Dies kann so banal sein wie „Piraten“ oder so konkret wie „Luftschiffpiraten, die als Rebellen im westlichen Barsaive gegen die theranischen Unterdrücker kämpfen und dabei immer wieder Schwierigkeiten wegen der glücklosen Romanzen ihres Kapitäns haben.“ Wichtig ist allein, dass die Spieler sich etwas darunter vorstellen können.
  2. Danach werden die Ideen der Figuren entwickelt. Dazu bringt jeder Spieler einen oder maximal zwei Ideen für seine Spielfigur ein. Hierbei ist zum einen wichtig, was der Spieler von dieser Figur erwartet. Zum anderen sollte er auch eine Vorstellung von der Rolle der Figur in der Runde haben. Anstatt einfach nur reihum zu gehen, sollten die Spieler auch die Gelegenheit nutzen, sich mit komplementären Konzepten einzubringen. Vielleicht möchte ein Spieler den tumben aber ungemein starken Kämpfer spielen, der aufgrund seines Temperaments öfter mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Dies bietet womöglich Raum für einen zweiten Spieler, der den wortgewandten Schurken mimen möchte, der ersterem bei Konflikten mit der Garde beistehen kann. Natürlich ist er auch auf die Hilfe seines Freundes angewiesen, da ihm seine Spielschulden immer wieder Nachstellungen durch gemeine Schläger einbringen.
  3. Ausgestaltung und Plotanker runden das Konzept weiter ab. In dieser Phase können die vorhandenen Konzepte ausgeschmückt werden um zu sehen, ob genügend Ideen für ein tragfähiges Konzept existieren. Beziehungen zwischen den Figuren werden so weiter vertieft und mögliche Plotanker identifiziert. Auch die Erwartungen der Spieler an die Chronik fließen hier ein. Wenn der eine unter dem Stichwort Piraten eine Art Military Fantasy verortet und der andere eine Entdeckerkampagne anarchistischer Romantiker erwartet, sollte geklärt werden, ob diese Erwartungen sich überhaupt in einem gemeinsamen Konzept verbinden lassen. Für den Meister ergeben sich hier womöglich bereits konkrete Plotpunkte, Anregungen für Meisterpersonen oder Abenteuerziele.
  4. Vermutlich folgt nun ein Wiederholen und Auswählen. Es ist gut möglich, dass der erste Versuch noch kein zufriedenstellendes Ergebnis liefert. Vielleicht finden einige Spieler keine geeignete Rolle für sich innerhalb der Chronik. Vielleicht ergeben sich bereits Konflikte innerhalb der Gruppe oder ein zunächst interessant klingendes Thema lässt sich nicht mit interessanten Ideen füllen. Womöglich wollt ihr aber auch einfach noch einmal eine andere Kombination probieren, um später aus unterschiedlichen Ideen wählen zu können. Dazu werden die Schritte Eins bis Drei einfach mit einem neuen Thema wiederholt. Ein Durchlauf sollte dabei zunächst nicht länger als 20 bis 30 Minuten dauern. Sobald ihr das Gefühl habt, die zentralen Konzepte durchgespielt zu haben ist es an der Zeit einmal durchzuschnaufen und zu prüfen, wo ihr euch insgesamt am Wohlsten fühlt. Dann kann die Ausgestaltung der neuen Chronik beginnen.

Beispiel

Das nachfolgende Beispiel ist zwar angelehnt an eine Idee meiner Spielrunde, wurde jedoch von mir modifiziert und interpretiert. Letzten Endes entschieden wir uns auch für eine andere Idee, obwohl auch diese hier ihre Freunde fand.

Idee der Chronik

Wir spielen „1001 Nacht“. Platziert in Aventurien soll die Chronik also vornehmlich in den Tulamidenlanden spielen. Phantastische Elemente wie einzigartige Ungeheuer, zaubermächtige Potentaten und märchenhafte Dschinne bereichern das Setting.

Ideen der Figuren

Der gefallene Prinz: Ein Prinz der durch eine Intrige des Großwesirs um sein Erbe gebracht wurde. Nun ist er auf der Flucht in der Gosse gelandet und muss Verbündete suchen, um sein Erbe zurückzuerlangen. In seiner privilegierten Position hat er einige ungewöhnliche Dinge erlernen können. Gleichzeitig fehlt es ihm jedoch auch an Erfahrungen, die ihm in seiner derzeitigen Lage helfen.

Der Dieb von Kunchom: Ein aufstrebender Glückspilz, der sich mit dem gefallenen Prinzen angefreundet hat und mit diesem zusammen große Abenteuer bestehen will. Ein Taschenspieler, Akrobat und Fassadenkletter. Eher ein geschickter Spaßvogel, denn ein gerissener Einbrecher.

Der rechtgläubige Krieger: Ein Stammeskrieger der Beni Novad. Beseelt vom tiefen Glauben an Rastullah und die Liebe zu seinem Pferd. Rastullah hat es gefallen einen heiligen Mann auf seinen Weg zu führen, den er nun begleitet.

Der alte Mann aus der Wüste: Ein ehemaliger Karawanenführer und Eremit. Verbrachte Jahre als heiliger Mann in der Wüste bis ihn Zeichen und Visionen des All-Einen in die Zivilisation zurückkehren ließen. Die Jahre der Einsamkeit haben ihn etwas den Menschen entwöhnt und so ist er froh in dem rechtgläubigen Krieger einen Beschützer und Begleiter gefunden zu haben, der an Rastullah und seine Zeichen glaubt.

Der geheimnisvolle Magier: Ein Schwarzmagier, dem die Suche nach Wissen und Macht zum Verhängnis wurde. Von seinem Konkurrenten für Neun mal Neun Jahre in Stein verwandelt, konnte er sich erst kürzlich aus seinem Gefängnis befreien. Leider musste er feststellen, dass die Welt sich gewandelt hat und er während seiner Gefangenschaft viel von seinem Wissen und seiner Macht verloren hat.

Ausgestaltung und Plotanker

So könnte eine Dokumentation des Beispiels aussehen. Anmerkungen des Meisters in Rot.

Der Prinz wird in der aventurischen Realisierung der Sohn eines tulamidischen Potentaten. Seine Fähigkeiten liegen vor allem darin Menschen für sich einzunehmen. Der „Wesir“ ist ein unheimlicher Schwarzmagier, der sich selbst an die Macht geputscht hat. Wichtige Themenfelder einer Kampagne sollen sein: Fliegende Teppiche, mächtige Dschinne, eine vieltürmige Stadt, magische Artefakte. Der zentrale Antrieb dieser Figur ist der Kampf gegen den bösen Wesir und die Rückkehr in den Palast der Familie. Diese Komponenten sollten sich im Hauptplot der ersten Kampagne wiederfinden.

Der Dieb wird womöglich über magische Kräfte verfügen. Alternativ zum Modell des unbekümmerten Glückspilzes entsteht die Vorstellung aus ihm einen vertrauten Beschützer des gefallenen Prinzen zu machen. Als solcher verfügt er über verborgene Qualifikationen (Profession: Butler!) und hat womöglich gelegentlich Zugriff auf Ressourcen aus dem Haus des tulamidischen Potentaten. Der Spieler möchte mit seiner Figur insbesondere die Leichtigkeit des Seins ausspielen. Taschenspielertricks, kindliche Meisterpersonen und wagemutige Kletterstücke sind auf seiner Wunschliste. Der Meister notiert sich außerdem Verfolgungsjagden über die Dächer der vieltürmigen Stadt.

Der Krieger wird ein wenig ausgestaltet, bleibt jedoch im Rahmen der archetypischen Erwartungen. Das Spiel mit den 99 Gesetzen wird eine interessante Rolle spielen. Für diesen Spieler werden auch die Visionen des heiligen Mannes von Bedeutung sein. Ihnen soll also im Lauf einer Kampagne größere Bedeutung zukommen. Die Konfrontation der Kulturen und Religionen kann ebenfalls eine Bereicherung sein. Weitere Elemente und Anküpfungspunkte sind sein edles Ross und mögliche Verbindungen zu den Würdenträgern des Kalifen, des Beherrschers der Rechtgläubigen.

Der Spieler des alten Mannes aus der Wüste begeistert sich zunehmend für die Idee eines weltfremden Visionärs, der Rastullahs Willen folgend durch die Welt der Ungläubigen wandelt. Der Meister beschließt einerseits diese Visionen und Zeichen möglichst oft in die Handlung einzubinden und vermerkt zudem die Reaktion der Spielwelt auf diese Figur entsprechend emotional aufgeladen zu präsentieren. Der Status des Eremiten als heiliger Mann sollte zumindest unter Rastullah-Gläubigen besonders herausgehoben werden.

Die letzte Figur im Bund ist zugleich auch die schwierigste. Der Spieler verwirft aus verschiedenen Gründen den großen Dschinnenbeschwörer, wie auch den skrupellosen Dämonologen. Im Gespräch mit den Spielern wird klar, dass sich einige Anküpfungspunkte zu den übrigen Spieler-Figuren finden lassen. Der überlegene Konkurrent soll identisch sein mit dem Wesir aus dem Hintergrund des gefallenen Prinzen. Die Ereignisse die zum Fall des Prinzen geführt haben, könnten auch für das Freikommen des geheimnisvollen Magiers verantwortlich sein. Ein Gefängnis in der Wüste und aggressive Wächterkreaturen könnten zudem den alten Mann aus der Wüste und den rechtgläubigen Krieger auf den Plan gerufen haben. Mit dem Wesir hat der Magier zudem einen gemeinsamen Gegner mit dem gefallenen Prinzen. Sein Vorgehen zielt jedoch eher auf das Erlangen magischer Kräfte und Nutzen mystischer Geheimnisse ab. Der entsprechende Plot bietet sich direkt als Einstieg in eine Kampagne mit dem Wesir/Schwarzmagier als Antagonisten und skrupellosem Widersacher der Rechtgläubigen an.

Fazit

Habt ihr immer wieder mal das Problem, dass das Ensemble der Spieler-Figuren nicht so recht harmoniert und zudem nicht alle Figuren so recht zur gewählten Kampagne passen wollen? Falls ja, dann mag das Treffen unter Freunden euch helfen gemeinsam ein Thema samt Besetzung zu entwickeln. Für mich hat der hier vorgestellte Ansatz überraschend gut funktioniert.

Hattet ihr auch schon mal das Problem, dass die Gruppe der Spieler-Figuren einfach nicht als Gruppe funktioniert hat? Wie habt ihr das Problem gelöst? Welche Wege führen bei euch zu einer erfolgreichen Schöpfung von Figuren und Themen? Ich bin gespannt auf eure individuellen Wege.

Dieser Beitrag wurde unter Hinter dem Schirm, Kolumnen abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Antworten zu Hinter dem Schirm – Ein Treffen unter Freunden

  1. FRAZ sagt:

    Mir gefällt die Kolumne! Und ich kann den Erfolg des vorgestellten Konzeptes nur unterstreichen.
    Wir hatten ein solches „Treffen unter Freunden“ von dem Abenteuer „Brogars Brut“. Letztlich haben wir (bis auf eine Ausnahme) alle passende Zwergen- Charaktere gefunden und das Abenteuer gehört bis heute zu meinen liebsten Rollenspiel Erfahrungen.

  2. syrrenholt sagt:

    Eine interessante Analyse.

    Da fällt mir spontan ein Regelkonstrukt bei Earthdawn ein, bei dem man sich im Laufe der gemeinsamen Abenteuererlebnisse ein Gruppensymbol entwirft, das als magischer Fokus reale Boni im Spiel bietet.

    Grundsätzlich finde ich hingegen die vorgestellte Heldengruppe viel zu Setting-betont. Wie will man mit dieser 1001-Rausch-Gruppe denn bitte in Weiden einen Vampir zur Strecke bringen – bzw. nicht wie sondern eher warum.

    Wichtig sind sicherlich Verbindungen / Verpflichtungen / Abhängigkeiten / Bezüge zwischen den SCs; aber oft ergeben sich diese doch auch beim Erleben des ersten gemeinsamen Abenteuers.

    • Cifer sagt:

      Ich würde eher erwidern: Warum sollte man das (also das mit dem Vampir in Weiden) überhaupt tun wollen? Die Gruppe hat doch ihr Betätigungsfeld irgendwo in Tulamidistan schon gefunden – und in 1001 Rausch gibt es vermutlich genug Abenteuer bis zur Verrentung.

      Für die furchtlosen Vampirjäger gibt’s dann vielleicht die neue Gruppe um den alternden Professor Abelmir aus Kuslik (Spezialgebiet Hämophagie), seine Schülerin Alvene und den Dorfschönling Sadelhold.

      Und klar, man kann die Verbindungen auch erst in den Abenteuern aufbauen, aber bereits bestehende Beziehungen machen meines Erachtens das Spiel oftmals leichter.

  3. Pingback: Mingers Weltenbau | Xeledons Spottgesang

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert