Das Káhet Ni Kemi oder früher Königreich Trahelien ist ein Kleinstaat auf der syllanischen Halbinsel zwischen Perlenmeer und Südmeer. Seine irdischen Ursprünge reichen sogar weiter zurück als Das Schwarze Auge selbst. Derzeit erfährt diese Region durch die DSA5-Abenteuerkampagne „Rabenkrieg“ erneut Aufmerksamkeit. Ein günstiger Zeitpunkt also um diejenigen zu befragen, die das Projekt gegründet und vorangetrieben haben: Anja Jäcke, Armin Abele und Perry Steven haben sich unseren Fragen gestellt, berichten dabei über die Hintergründe und erinnern sich auch an ein paar Anekdoten.
Armin Abele, Mitgründer des Kemi-Projekts, hat inzwischen das satte Alter von 56 Jahren erreicht. Der bayerische Schwabe lebt zusammen mit Anja und den beiden Hundedamen Kira und Alina im hessischen Exil, plant aber, irgendwann dorthin umzuziehen, wo es nie schneit und der Ozean nicht fern ist.
Aus diesem Grund beschäftigt er sich neben allerlei Ego-Shootern (Favorit Nr. 1 Fallout 4!) und Strategiespielen auch seit ein paar Jahren verbissen mit dem Studium der spanischen Sprache. Daneben sind Bücher seine große Leidenschaft, wobei es ihm Romane deutlich weniger angetan haben als Bücher über Geschichte und naturwissenschaftliche Themen. Armin ist Chemiker, hat vor vielen Jahren aber dem Geld den Vorzug gegeben und arbeitet heute als IT-Projektleiter bei einem großen, deutschen Erdnussunternehmen – eine Entscheidung, die vielleicht nicht die allerbeste war.
Rollenspielerisch ist er immer noch im DSA-Universum tätig, als Inkarnation des Herrn PRAIOS versucht er derzeit, seine wahrhaft aufrechte Praiotengruppe zum Heiligen Licht zu führen. Spielerisch tätig ist er als kem’sche Erzverräterin Merit’ká Sekemat in einem postapokalyptischen Aventurien und als Master Sergeant Maribel Salazar in einer Fading Suns-Runde.
Perry Steven ist neben Armin die Gründerin des ‚Kemi-Projektes‘. Sie ist inzwischen Mutter von drei Kindern, von denen Chanya, die jüngste, seit einiger Zeit festes Mitglied in ihrer DSA-Runde ist. Perry ist zur Hälfte Lakota und setzt sich seit Jahren gegen Rassismus und für die Belange der indigenen Bevölkerung in den USA ein, eine Aufgabe, die sie seit der unseligen Trump-Amtszeit sehr in Anspruch nimmt. Perry verbringt mit ihrer Ehefrau Carol die meiste Zeit des Jahres auf Guam, wo sie nur noch an Übersetzungen alteuropäischer Sprachen arbeitet, wenn sie Lust hat.
Viel lieber widmet sie sich derzeit der Musik; sie spielt seit frühster Jugend elektrische Gitarre und komponiert für ihr Leben gerne. Ebenfalls viel Platz nimmt in ihrem Leben das Star Trek-Universum ein. Natürlich kennt sie alle Serien und Romane dieser Fantasie-Welt, und als große Liebhaberin der klingonischen Kultur und Sprache ist sie auch bei manchen Conventions anwesend.
Anja Jäcke kam Anfang der 90er Jahre als “gebürtige“ Al’Anfanerin über Umwege nach Kemi und blieb viele Jahre, um an der Seite von Perry und Armin und zahlreichen Briefspieler*innen das Projekt mitzugestalten. Auch heute spielt und (zumindest theoretisch 🙂 ) meistert sie noch DSA und hat zuletzt Armins und Davids Rabenkriegkampagne mit Rat und Korrektorinnenblick begleitet. Als Keltologin, Anglistin und Skandinavistin hat sie ihre große Liebe zu Sprachen zum Beruf gemacht und ist seit 2017 Inhaberin einer Übersetzungsagentur, wo sie in erster Linie Deklarationen von Tierfuttermitteln für den europäischen Markt übersetzt. Ihr Blick fürs Detail, ihr Interesse daran, in futtermittelrechtliche Fragen einzutauchen und nicht zuletzt ihre Ausbildung zur Tierheilpraktikerin helfen dabei, dass der Laden brummt, auch wenn sie nach wie vor mit anderen beruflichen Zielen liebäugelt. Privat beschäftigt sie sich neben Yoga und Gartenarbeit am liebsten mit ihren Hunden und findet hin und wieder auch Zeit zum Lesen und Computerspielen.
Nandurion: Boron zum Gruße, ihr drei! Wann kamt ihr zum Rollenspiel und zu welchem Zweck habt ihr das Kemi-Projekt gegründet?
Perry: D&D habe ich mit 13 Jahren angefangen. Mein Vater hatte eine Spielrunde, und ich war schon interessiert, wie dieses Spiel funktionierte. 1980 durfte ich dann das erste Mal mitspielen. Ich hatte dann mit meinen Freunden eine eigene Runde, zu der Armin dann dazukam. Ein Reich für unsere Charaktere zu erschaffen, war Armins Idee. Eine Anekdote ist die Namensgebung. Zuerst hieß das Reich “Transhelvetien”. Eine Mischung aus meiner früheren Begeisterung für transsylvanische Vampire und Armins Schwärmereien für alles Schweizerische. Später wurde daraus Trahelien, die Mittelreich-Kolonie.
Armin: Mein erster Kontakt zum Rollenspiel an sich kam im Alter von 18 Jahren Ende 1983 zustande, als ich Perry bei einem Iron Maiden-Konzert in Ulm kennenlernte. Sie spielte damals schon einige Jahre D&D und so blieb es nicht aus, dass ich recht zügig in ihrer Runde assimiliert wurde.
Ich war von dieser neuen Art des Spiels so gehyped, dass ich mich gedanklich auch in der Zeit zwischen unseren regelmäßigen Runden mit meinem Charakter beschäftigt habe – wo lebt mein Charakter? Hat er eine Familie? Welchen Status hat er, etc. Bei den anderen fielen diese Überlegungen auf fruchtbaren Grund, und so entstand bald eine kleine, heruntergekommene Stadt namens “Revelation” in einem rauen, wilden an die transsylvanischen Karpaten angelegten Bergland mit verschneiten Pässen, nächtlichem Wolfsgeheul und Vampirstimmung, die unserer Gruppe zusammen mit dem umgebenden
Kleinkönigreich als Heimat diente.
Es ergab sich dann fast zwangsläufig, dass sich Geschichte und Geographie unserer “Heimat” rasant entwickelte, mehr Städte entstanden, äußere Feinde wurden erfunden und Kriegszüge nach den Regeln von Tabletop-Spielen ausgespielt; der militärische Background der Runde sorgte natürlich dafür, dass wir auf militärische Aspekte Proto-Kemis viel Wert legten.
Anja: Meine Rollenspielkarriere begann 1988 mit AD&D, und mein erster Charakter, den ich damals an dem ersten Spielabend erstellte, war eine neutral-böse Elfe namens Saga Mondlicht. 🙂 Sie lernte in jener Runde neben zwei notorischen Hobbits und dem wackeren Krieger Balduin Bor einen chaotisch-bösen Kleriker namens Amir kennen und die beiden entwickelten sich im Laufe der Abenteuer zu einem höchst dynamischen Duo (Hobbits durch Vorhänge zu werfen, um Fallen auszulösen, war dabei eine ihrer Spezialitäten ;)).
Als wir zwei Jahre später auf DSA umstiegen, wollten wir unsere liebgewonnenen Charaktere natürlich nicht verlieren und so kam es, dass für kurze Zeit sogar Hobbits auf Dere wandelten. Auch unsere anderen Charaktere wurden an Aventurien angepasst: Sagas Heimat wurden die Salamandersteine und der Totengott-Kleriker Amir fand sich als Sohn des Patriarchen von Al’Anfa wieder.
Vermutlich hätte er niemals die angestammte Spielrunde verlassen, wäre uns nicht der Aventurische Bote Nr. 30 in die Hände gefallen. Aus einem “Guck mal, dein Vater überfällt das Kalifat” entstand ein Brief an die Botenredaktion, in dem wir ausführlich die Hintergründe unserer Charaktere und Spielrunde schilderten, ohne wirklich damit zu rechnen, dass uns jemand antworten würde.
Als wir wenige Wochen danach einen Brief von Ulrich Kiesow höchstselbst in den Händen hielten plus einer Einladung, ihn doch in Düsseldorf zu besuchen, waren wir so aufgeregt, dass wir uns sogar mit einer Packung Weinbrandbohnen versuchten, etwas Mut anzutrinken ;). Der Besuch ist mir noch heute in lebhafter Erinnerung, und auch wenn ich mittlerweile selbst zu den “alten Hasen” gehöre, kann ich noch immer diese Aufregung fühlen, wenn an diese Anfangszeit zurückdenke. Bei jenem Besuch entstanden viele Ideen für den späteren Rat der Zwölf in Al’Anfa und seitdem hat mich die Liebe zu DSA und vor allem zum Tiefen Süden nicht mehr losgelassen.
Nandurion: Wie wurde das Projekt kanonisch in DSA und für die Leserschaft eingeführt?
Perry: Der Umzug von D&D auf DSA war mir persönlich so wichtig. Als ich das erste Mal DSA-Regelbücher las, war ich positiv überrascht, dass dort ausdrücklich viel Wert auf Geschlechtergleichheit gelegt wurde. Ich habe Erfahrungen mit Sexismus und Rassismus, deshalb war das für mich etwas Besonderes. Ich wollte deshalb auch gerne Ulli Kiesow kennenlernen, der für DSA verantwortlich war. Wir hatten auch schon viel Material von unserem Königreich, das wir für interessant hielten. So schrieben wir einen Brief und bekamen tatsächlich eine Antwort. Ich hatte seitdem einen intensiven Briefwechsel mit Ulli Kiesow, und ich bedaure heute noch, dass ich ihn nie persönlich treffen konnte.
Mit seiner so typisch deutschen, direkten Art war er vielleicht für manche nicht leicht umzugehen, aber ich schätzte das mehr als die amerikanische Art, bei der einfach immer alles großartig ist. In dem Alter damals waren wir natürlich alle Powergamer, aber Ulli hat viel dazu beigetragen, schnell davon abzukommen und Gefallen an Heldinnen zu finden, die Schwächen und Fehler und nicht immer das beste magische Schwert hatten. Für mich war Ulli ein guter Freund und wichtiger Ratgeber und ich vermisse ihn heute immer noch.
Armin: Das ging damals tatsächlich noch recht einfach vonstatten. Als 1985 DSA erstmals erschien und ich die erste Box zum Geburtstag geschenkt bekam, stellte sich unsere Runde bald von D&D auf DSA um – ich weiß nicht mehr warum und ob es überhaupt eine bewusste Entscheidung war; irgendwann migrierten wir unsere Charaktere jedenfalls auf DSA. Unsere Heimat nahmen wir mit, aber da ich inzwischen ein Faible für die Tropen entwickelt hatte, wollte ich nichts vom Bornland oder anderen entlegenen Nordlanden wissen. Ich konnte die anderen davon überzeugen, dass die Halbinsel von Hôt-Alem doch der ideale Ort in Aventurien für unser kleines Reich ist.
Irgendwann kam dann Perry auf die Idee, doch einfach mal an die Redaktion zu schreiben und den DSA-Machern vorzustellen, wer wir seien und dass wir das beste Rollenspielkonzept aller Zeiten entwickelt hatten. Gesagt, getan, und tatsächlich stieß unser Material bei Ulli Kiesow auf Interesse und es entwickelte sich ein reger Briefkontakt zwischen uns – hauptsächlich Perry – und ihm, und Perry – damals schon wieder in den USA lebend – erhielt sogar eine 1990 eine kleine Vorstellung im Aventurischen Boten Nr. 26.
Ulli machte dann kurz darauf den Vorschlag, Aventurien mit einer lebendigen Geschichte anzureichern, und wir waren begeistert, dass er dazu vorschlug, die Al’Anfaner einfach mal unser Kleinkönigreich annektieren zu lassen. Daraus entwickelte sich zwischen uns und ihm eine Art Briefspiel, in dem wir den armen Ulli durch zahlreiche – altersbedingte – powergamistischen Setzungen doch recht beanspruchten – so war er keineswegs von unserer Idee, die brabakischen und al’anfanischen Invasoren mit einem Heer von Untoten zurückzuschlagen, begeistert. Naja, letztlich wurde diese Idee dann einfach in bösartige Feindpropaganda umgewidmet. Letztendlich aber kam diese Geschichte dank Ullis Erfahrung und Reife zu einem wunderbaren Ende, bei dem die bösen Al’Anfaner nicht nur besiegt, sondern unsere Kronprinzessin Ela sogar höchst offiziell den brabakischen Kronprinzen heiraten durfte. Das gab uns sozusagen “freie Hand”, in unserem freien Teil Aventuriens schalten und walten zu können wie wir wollten, und so veranstalteten wir kurz darauf eine an das Mittelreich angelehnte “Lehensvergabe”.
Nandurion: Die Umwandlung in das Kemi-Briefspiel war ein große Veränderung. Wann ging das los, wer beteiligte sich daran und gab es auch Treffen?
Armin: Die Reaktion auf unsere “Lehensvergabe” war weitaus massiver als wir gedacht hatten, und so gelang es uns schnell, auch den letzten trostlosen Dschungelflecken an den Mann und – seltener – die Frau zu bringen. In der Folgezeit entwickelte sich Trahelien durch die Begeisterung und das Engagement rasant, wobei wir wenig Grenzen setzten, was natürlich auch zu Ereignissen und Setzungen führte, die damals und erst recht heute im offiziellen Aventurien höchst, sagen wir mal, grenzwertig waren. In den folgenden Monaten und Jahren entwickelte sich Kemi dann trotz der üblichen Fluktuation der Spieler*innen schnell und in einem hohen Detailgrad weiter; wir führten Regeln für die Baronieverwaltung ein und Zufallsereignisse ein; eine Reminiszenz daran findet sich in Rabenkrieg II mit dem Krater von Belam, der durch einen von André Wiesler ausgewürfelten Meteoriteneinschlag in seiner Baronie zustande kam.
Anja: Ich stieg sozusagen auf al’anfanischer Seite in das Kemi-Briefspiel ein und verfasste irgendwann nach dem schmählichen Rückzug Al’Anfas aus diesem Dschungelloch (welch Schande!:)) einen Brief als Großexekutor Irschan Perval an den trahelischen Kanzler Dio de Cavazo, in dem ich ihn gepflegt beleidigte und gleichzeitig einen Besuch vorschlug, denn Diplomatie wird schließlich nicht nur mit dem Schwert gemacht. Die Antwort von Armin, eine Adaption von Lou Reed’s “Walk on the Wild Side”, in der er die Granden aufs Korn nahm, war legendär :).
Persönlich kennen lernten wir uns dann später auf dem DSA-”Redaktions”-Con in Bielefeld und seitdem haben wir viele Spielrunden im tiefen Süden zusammen bestritten, und die Geschicke Kemis und Al’Anfas haben sich weiter miteinander verflochten. Ich begann, mich mehr und mehr in Kemi einzubringen, nachdem meine al’anfanische Spielrunde sich irgendwann aufgelöst hatte und entwickelte bald ein besonderes Faible für die kem’sche Boronkirche und die alten Familien, die ich mit Begeisterung mitgestaltet habe. Leider habe ich die liebe Perry nie persönlich getroffen, aber vielleicht schaffe ich es ja nach der Pandemie endlich mal über den Großen Teich.
Perry: Es war am Anfang schwierig für mich, weil ich wieder in den USA war und doch die Königin verkörpern musste. Über E-Mails konnte ich dann mehr beitragen, aber dennoch waren damals Anja und Armin diejenigen, die die meiste Arbeit hatten und aus den Beiträgen der Beteiligten das Kemi-Bild prägten. Bei Treffen selbst war ich leider nicht dabei.
Nandurion: Auf welche Art wurde das Briefspiel betrieben und welche Anekdoten bzw. größeren Abweichungen zum offiziellen Aventurien fallen euch dazu ein?
Armin: Anfangs war der Weg der Kommunikation tatsächlich der altbackene, handschriftliche Brief, unter denen sich nicht wenige kalligraphisch höchst beeindruckende Machwerke befanden. Später lief das Briefspiel über E-Mail ab, und natürlich hatten wir auch bald eine eigene, quietschbunte und blinkende Website, deren Forum aber nur spärlich Verwendung fand. In der Hochzeit des Briefspielprojektes hatten wir so um die 40-50 mehr oder weniger aktive Mitspieler*innen, die sich zum Teil einmal jährlich zu den Kemi-Cons trafen.
Anfangs in diversen Jugendherbergen abgehalten, trafen wir uns schließlich auf dem Lindersberg bei Nürnberg, wo der Con neben den üblichen, meist kemibezogenen Tischrunden auch immer eine Art Metaplot bot, der durch LARP-ähnliche Einlagen bespielt wurde und aktuelle politische Ereignisse in Kemi behandelte. Diese Ereignisse haben wir dann in der “Rabenschwinge” dokumentiert, einer Art “Bote” auf kem’sch, die die alte “Chronik” abgelöst hat, die ein umfangreiches Werk aus der Vorbriefspielzeit ist und diverse lustige, ernste, passende und unpassende (Zufalls)ereignisse Traheliens dokumentiert. Abweichungen zum offiziellen Aventurien gab es genug, auch weil wir generell sehr frei mit den Ideen und Ausgestaltungen der Mitwirkenden umgegangen sind.
So kam es beispielsweise durch namenloses Wirken zur Bildung eines gewaltigen Sees im Zentrum des Reiches, der auf aventurischen Karten nicht verzeichnet ist, zur Etablierung einer kleinen Zwergenbinge durch meine die Angroschim liebenden Bruder in den Spinnenbergen oder zur Umwandlung weiter Teile des östliche Dschungels in eine Staubwüste durch ein fehlgeschlagenes Experiments eines schwarzmagischen Barons. Auch die Gründung einer sehr rege bespielten Magierakademie in Khefu durch Björn Berghausen soll nicht unerwähnt bleiben.
Anja: Ich habe mir irgendwann den Ruf erarbeitet, der Satinav Kemis zu sein, weil ich immer sehr genau darauf geachtet habe, dass die Zeitlinie stimmig bleibt und die einzelnen Geschichten und Briefspielaktionen zueinander passen.
Leider bin ich beim Achten auf Stimmigkeit manchmal etwas zu sehr vorgeprescht und habe darüber die Leichtigkeit und den Spaß aus den Augen verloren, so dass ich um ein Haar sogar fast eine sehr eifrige und begeisterte Mitspielerin vergrault hätte, weil ich in ihrer Geschichte um eine wandelnde Mumie eine strenge Boroninquisitorin auftreten ließ, die das untote Geschöpf kurzerhand in das Land im Westen (das kem’sche Totenreich) schicken wollte und die Geschichte so fast um Plot und Pointe gebracht hätte. Zum Glück konnten wir das klären und daher stammt lediglich die Erkenntnis, dass in Yleha eben alles etwas anders zugeht als im Rest Kemis. 🙂
Um meinen Ruf als Spaßbremse zu relativieren, soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass ich als Baronin im Kemi-Briefspiel eine gewisse Karilja Sjepengurken verkörpert habe, ein Mitglied jener berüchtigten bornischen Sippe, die seinerzeit von Karli Witzko ins Leben gerufen wurde.
Perry: Es gab sicherlich viele Abweichungen zum offiziellen Aventurien. Die Ideen und Beiträge der Beteiligten sind eben immer durch deren Vorlieben und Kenntnisse geprägt und auch für mich war der Spaß der Leute wichtiger als Widersprüche zu offiziellen Setzungen. Natürlich konnte deshalb in den DSA-Spielhilfen nicht alles übernommen werden, was im Projekt erfunden wurde.
Ich hatte sogar ganz direkt einen Widerspruch zu offizieller Setzung. Mein Charakter, Peri III. ist im offiziellen Aventurien stumm, wie es auch in “Der Löwe und der Rabe” beschrieben wurde. Das kam daher, dass der Charakter noch aus D&D-Zeiten stammt und dort in einem Szenario die Stimme verloren hat. Das war aber auf Dauer für das Spiel in der Runde zu schwierig, so dass Peri eigentlich nicht stumm war. Ich habe das Dilemma dadurch gelöst, dass ich festlegte, dass es eine alte Kemi-Tradition gab, nach der die Königin oder der König eine so hohe Stellung hat, dass sie oder er nie direkt zu Untergeben spricht. Aber der Brauch wurde dann mit Peris Nachfolgerin Ela aufgegeben.
Nandurion: In welcher Form wurden Inhalte des Kemi-Projekts nach Aventurien übertragen?
Anja: Für die Mitarbeit an der Meridiana-Spielhilfe bin ich ganz meinen al’anfanischen Wurzeln treu geblieben und habe nichts kem’sches beigesteuert, sondern nur Texte zu Al’Anfa, aber dafür habe ich mit Perry zusammen das Abenteuer „Boronsfurcht“ in „Questadores“ veröffentlicht. Und ich habe es mir im Roman „Rabengeflüster“ nicht nehmen lassen, einen typisch kem’schen Schreiber, genannt “das Wiesel” in Goldo Paligans Haushalt einzuführen.
Perry: An den Spielhilfen, an denen ich beteiligt war, habe ich darauf geachtet, welche Setzungen in Kemi in das offizielle Aventurien passen und welche nicht. Das war aber kein
großes Problem, da der Raum, der Kemi in offiziellen Werken eingeräumt wurde, natürlich begrenzt war.
Armin: Das geschah nicht unbedingt nach einem stringenten und konsequenten Plan. Es ist nicht so, dass wir in irgendwelchen regelmäßigen Formaten mit der Redaktion kommunizierten; im Prinzip stellten wir Entwicklungen und Ereignisse in Kemi über den aventurischen Boten oder auch durch die Mitarbeit an den entsprechenden Spielhilfen ins Schaufenster. Dabei ist es aber auch immer wieder möglich gewesen, Aventurien in gewisser Form, manchmal sogar über Kemi hinaus, mitzugestalten.
Ich freue mich beispielsweise heute immer noch, dass meine Vorstellungen von den Inselachaz Eingang in die offiziellen Setzungen gefunden hat. Da mir die Schuppigen von Anfang an sehr am Herzen lagen, hatte ich schon früh einen Achaz gespielt (damals noch mit eigenen Regeln) und auch die Harmonie zwischen Kemi und Achaz ist auf meinem Mist gewachsen. Mit der Ausgestaltung der Waldmenschen und der Wudu beispielsweise hatten wir aber nichts zu tun.
Beginnend mit Ullis viel zu frühem Tod und den sich bei Perry und mir ändernden Lebensumständen wurde die Verzahnung zum offiziellen Aventurien jedoch immer weniger, und nach dem Ende des Briefspielprojekts Mitte der 2000er gänzlich eingestellt. Das hatte beim “Rabenkrieg” einige Auswirkungen, da beispielsweise die anfängliche Setzung Rhôndas als Halbdämonin gänzlich unpassend wurde und im Zuge der Kampagne zurückgenommen werden musste, was wiederum eine stimmige Erklärung des falschen Bildes der Prinzessin in der offiziellen Setzung erforderlich machte.
Nandurion: An welche realen Vorbilder sind denn Kultur und Geschichte des Kemi-Reichs angelehnt?
Armin: Es ist eine Melange aus zahlreichen Inspirationen historischer Vorbilder. Ins Auge fällt natürlich der ägyptische Aspekt; ein Steckenpferd von mir. Mit der Umwandlung von Trahelien in Kemi haben wir das ganze Reich “ägyptisiert”, ins Auge fallen beispielsweise die Städtenamen (Khefu, Setepen, Stut-Ymi’kekû) und Amtsbezeichnungen (Repa, Akîb, Sah, etc.), die wir einfach aus dem Englischen bzw. Deutschen übersetzt haben. Aus der eingangs erwähnten Hauptstadt „Revelation“, was Offenbarung bedeutet, wurde somit sinngemäß das heutige „Khefu“. „Baron“ hieß fortan „Akîb“ (der Name der zugehörigen Verwaltungseinheit wurde dann einfach durch diesen Titel gebildet, dem das Präfix „Tá’“ vorangestellt wird, also „Tá’Akîb“ für Baronie oder als größte Verwaltungseinheit „Táhekát“, ein Herzogtum). Die Bezeichnung „Káhet Ni Kemi“ für das Kemi-Königreich lehnt sich an die Eigenbezeichnung Ägyptens als „Kemet“, das schwarze fruchtbare Land um den Nil herum, an. Auch der Formalismus, die Sichtweise auf den Herrscher, die bürokratische Kultur, etc. sind grob an die altägyptische Kultur angelehnt.
Daneben gibt es natürlich auch Anleihen an die mesoamerikanischen Kulturen (Pyramiden), die spanischen Kolonien in der Karibik und Südamerika und die Kreuzritterstaaten, insbesondere was den Orden des Heiligen Laguan angeht, dessen Ordensregel auch sehr nah an irdische Vorbilder angelehnt ist.
Perry: Der Ausgangspunkt in der alten D&D-Welt war eine Mischung aus Transsylvanien und der Schweiz. Später überarbeiteten wir das Material, damit es in den tropischen Dschungel passte. Die größte Umgestaltung kam dann mit der Ägyptisierung, die maßgeblich von Anja und Armin durchgeführt wurde und für die IT der Unabhängigkeitskampf gegen das Mittelreich und Al’Anfa der Grund war. Stichpunkt: Rückbesinnung auf alte Wurzeln.
Anja: Ich habe von Perry und Armin sogar ein zweibändiges altägyptisches Wörterbuch geschenkt bekommen und hatte fortan den Auftrag, Namen und Titel zu kemisieren. Als Linguistin und Sprachnerd war das ganz mein Ding :).
Nandurion: Welchen Stellenwert hat das Kemi-Projekt heutzutage für euch und bespielt ihr die Region noch?
Anja: Kemi ist für mich mit unendlich vielen reichen und wundervollen Erinnerungen verknüpft und ich schöpfe noch heute daraus, sei es dass ich in einer aktuellen Spielrunde einen Charakter aus einer der alten Familien spiele oder versuche, den kem’schen Boronglauben mit nemekathäischen Aspekten und der Verbindung zu Nereton in Myranor zu verknüpfen. Bei der Rabenkrieg-Kampagne habe ich aus Zeitgründen leider außer bei den Outlines und ein paar kleinere NSC-Ergänzungen nichts selbst geschrieben, aber natürlich habe ich begeistert die Texte von Armin und David gelesen und meinen Senf dazugegeben.
Perry: Für mich wird Kemi immer eine Herzensangelegenheit sein. Von unserer alten Spielrunde, die damals in Transhelvetien begann, sind immer noch drei von vier Leuten dabei. Dabei spielleite ich immer noch im aventurischen Süden. In einer alternativen Realität sind Kemi und die anderen südliche Länder in einem Imperium vereint, in dem die Gruppe seit vielen Jahren schon in die komplizierten politischen Irrungen verwickelt ist. Wir spielen auf der Basis von DSA 4.1., aber mit unendlich vielen individuellen Anpassungen und Regeln. Wir verwenden auch Tabletop-Elemente, um die Kriegszüge Meridianas gegen den Horas und das Kalifat nachzustellen, so ist in den letzten beiden Monaten endlich Neetha unter imperiale Kontrolle gelangt. 🙂
Achtung Spoiler zu Rabenkrieg voraus
Im Zuge des Rabenkriegs habe ich zusammen mit meinem Vater Armin bei der Ausgestaltung der Kriegshandlungen beraten, mich sonst aber nicht eingemischt. Es gab nur ein Veto von mir, denn ursprünglich wollte die Redaktion, dass die Heldinnen und Helden Altkönigin Peri töten, was ich aber auf keinen Fall wollte. Mein ältester und liebster Charakter sollte einen angemesseneren, symbolhafteren Tod durch die Hand ihrer Tochter erfahren. So kam es dann ja auch.
Armin: Nach dem “Auslaufen” des Briefspielprojektes hatte ich mich viele Jahre nicht mit Kemi beschäftigt; ich hatte auch weder Zeit noch Lust, mich in die “Questadores” einzubringen, so dass hierfür vor allem Perry und Anja die Lorbeeren verdient haben. Als ich dann irgendwann davon hörte, das der “Aventurische Almanach” von einer Annektion Kemis durch Al’Anfa berichtete, dachte ich, ich zunächst, dass mich das nicht sonderlich interessierte.
Aber einige Wochen später nahm ich dann doch Kontakt zu Eevie Demirtel auf, weil ich doch merkte, dass fast 20 Jahre Kemi-Projekt doch mehr Spuren hinterlassen haben, als gedacht. Heute sehe ich die Entscheidung, den “Rabenkrieg” maßgeblich auszugestalten, als eine der besten Entscheidungen meines Lebens an. Nicht nur, dass die Arbeit in diesem wunderbaren Team mit David (Schmidt), Johannes (Kaub) und Anja eine extrem positive Erfahrung war, sondern auch, weil diese Kampagne einfach einen perfekten Schlusspunkt unter ein Projekt setzt, das so viele Jahre meines Lebens nachhaltig geprägt und bereichert hat.
In dem Sinne will ich auch all diejenigen Spieler*innen (die ich gerne alle erwähnen möchte, es aber lasse, weil ich nicht weiß, wem das recht ist und wem nicht) nicht vergessen, die in den Zeiten des Briefspiels mit ihrer Kreativität dazu beigetragen haben etwas ganz besonderes zu schaffen. Danke, dass ihr dabei wart!
Nandurion: Vielen herzlichen Dank, dass ihr eure Erinnerungen an das Kemi-Projekt mit uns geteilt habt!
Wer sich vertieft mit dem Projekt beschäftigen möchte, findet zahlreiche Informationen auf http://kemi.de: Auf der bis heute bestehenden Webseite sind eine (Welt)Beschreibung unterteilt in Geschichte, Geographie, Flora und Fauna, Religion, Land und Leute, Politik, Kultur, Handel, Geschichten, Satire, Personenindex, ein Kemi-Atlas mit teilweise interaktiven Karten und einem Glossar enthalten. Zudem gibt es über ein Dutzend Gespräche mit NSC, juristische Dokumente, Strukturbeschreibungen von Armee, Kirche, Verwaltung, Abenteuer und Spielhilfen, Provinzbeschreibungen als auch die Verwaltungsregeln zum Provinzspiel.
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Danke für das tolle Interview. Ich finde es super Spannend die Hintergründe hinter Aventurischen Entwicklungen zu lesen und hier ein wenig auch die Menschen kennenzulernen die sie mitgeprägt haben.
Ganz großartiges Interview! Ich finde es total spannend, wie sich aus dem Herzblut einiger weniger so etwas entwickelt hat, was noch heute Bestand hat. Vor allem merkt man die Detailliebe für die Region, deren Geschichte und die dazugehörigen Charaktere.
Schön.
Den einzigen Hintergrund den ich kannte war der „uralte“ Botenbeitrag zu Trahelien;
das dei Schöpfer wetterhin ihr kleines Reich im Auge behielten war mir nicht bewußt.
Tolles Interview, vielen Dank!
Ein wirklich spannender und unterhaltsamer Artikel. Ich musste wirklich lachen. Tatsächlich auch interessant und erhellend wie entwicklungsoffen DSA war (und heute noch ist?) für die Einbringungen auch verrückter Ideen durch die eigenen Spieler. Etwas das dringend beibehalten werden sollte.
Ein tolles Interview! Finde interessant wie die eigene Familie bereits DSA-Affinität hatte und sich das über die Generationen weiter führt 🙂
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Super Interview, vielen Dank. Das Kemi Projekt zeigt wie toll Spieler Ideen die Entwicklung Aventuriens beeinflusst haben und noch beeinflussen. Spannend zu lesen, dass über all die Zeit treue gehegt und gepflegt wird, was man zusammen geschaffen hat.