Es ist nichts, was den geschulten Verstand mehr kultiviert und bildet, als Geographie.
— Immanuel Kant
Darum sage ich euch: Die Welt ist, was ihr seht, und sie ist vollkommen in ihrer Gestalt.
— Ru’halla der Weise
Methumis oder Mengbilla – Hauptsache Yaquirien!
— Alrik Müller, legendärer tobrischer Immanspieler, zuletzt gesehen im Kader von Wiederkehr Warunk
Zum Geleit
Vor einiger Zeit erschien mit Schattenlande der vorerst letzte Band der Regionalspielhilfen in der grünen Reihe, die — trotz gelegentlicher Schwächen und Hänger — das Prunkstück der DSA-Spielhilfen ist. Abgeschlossen ist die Reihe damit aber noch nicht: Zum Einen hat Ulisses mit dem Aventurischen Geschichtsbuch noch ein echtes Mammutprojekt angekündigt, zum anderen ist vor kurzem der Aventurische Atlas erschienen, die insgesamt sechzehnte Spielhilfe mit dem grünen Einband.
Zu behaupten, dass der Band bislang in der Forenlandschaft nicht gerade Freudenfeuer entfacht hat, wäre in etwa so, wie zu sagen, dass Borbarads Fluch mit ungewöhnlichen Ideen aufwartet oder Handelsherr und Kiepenkerl sich etwas zu intensiv mit Gemüse beschäftigt. Meine Erwartungen waren — nach der teils vernichtenden Forenkritik direkt nach Veröffentlichung — daher auch recht moderat, als mein Rezensionsexemplar hier eintrudelte. Nach ausgiebiger Überprüfung und angesichts eines inzwischen verfügbaren Index werde ich mich zwar nicht zu dem vergifteten Lob hinreißen lassen, dass der Atlas mir besser gefällt als erwartet, aber ich denke, auch diese Sache wird nicht so heiß gegessen, wie sie zunächst gekocht wurde. Auch wenn dies in diesem Fall bedeutet, dass einem die Suppe eher lauwarm serviert wurde.
Aber ich schweife ab, bevor ich begonnen habe. Machen wir daher vorerst Schluss mit schlechten Metaphern und den zweiten Schritt nicht vor dem ersten, Bruderschwestern, sondern gehen wir die Sache mal ganz ruhig und systematisch an. Spannt also mit mir die Rentiere vor die achtspännige Kufen-Ferrara und begleitet mich auf einem aventurischen Skytrip von Gyldhaven nach Brabak, bei dem wir das Kartenwerk in seiner gebundenen Form einer ausführlichen GPS-Analyse unterziehen und nebenbei ein paar Päckchen abliefern. Als Begleitmusik sei euch dazu der alte Gassenhauer der legendären Zwillings-Ausrufer in Endlosschleife empfohlen, der euch hier von den Barden eures Vertrauens geträllert wird.
Allgemeines
Beginnen wir zunächst ganz unverfänglich mit allgemeinen Eckdaten. Der Atlas kommt auf 144 vollfarbigen Seiten in – schockschwerenot – leicht hellerem Grünton als die anderen Bände, mit stabiler Bindung und zwei Lesebändern daher.
- Die Seiten 5 bis 91 präsentieren uns auf 43 jeweils zweiseitigen Karten den gesamten aventurischen Kontinent nebst diverser Inseln. Die bisherigen Karten der Regionalspielhilfen werden hierbei in höherer Auflösung dargeboten. Als Maßstab wurde 1: 1.100.000 gewählt, einem Zentimer entsprechen somit 11 aventurische Meilen. Im Endeffekt bedeutet das, dass jede Atlasseite ungefähr einen Bereich von 300 mal 210 Meilen abdeckt (und jede doppelseitige Karte 300 mal 420 Meilen). Vorangestellt wurde dieser Kartensammlung eine Überblicksseite, aus der man grob entnehmen kann, welchen aventurischen Bereich man auf welcher Karte findet. An den Rändern der Karten findet man jeweils Hinweise darauf, zu welcher Karte man springen muss, um die passenden Anschlusskarten zu finden.
- Die Seiten 92 bis 116 enthalten allgemeine Informationen zu Regionen und Staatsgebilden Aventuriens in Form von Kurzzusammenfassungen, wie man sie aus den entsprechenden Kästen der Geographia Aventurica kennt. Diese wurden leicht ergänzt (z.B. durch Einwohnerzahlen der Städte, Hinweise auf aktuellste Quellen und Landschaftstabellen).
- Hierauf folgen auf den Seiten 117 bis 139 insgesamt 16 politische Karten von Mittelreich, Horasreich und Aranien (mit Yalaiad). Im Fall des Mittelreichs bedeutet dies: Eine Übersichtskarte über alle politischen Einheiten unterhalb der Reichsebene sowie Karten der einzelnen Königreiche, Fürstentümer, Markgrafschaften und Marken (= Travia-, Raben-, Wilder- und Sonnenmark um Beilunk, die hier offiziell zum Reich gezählt wird). Im Vergleich zum Mittelreich werden Horasreich und Aranien deutlich kürzer abgehandelt: Jeweils zwei Seiten müssen hier ausreichen, um alle Baronien und Grafschaften (bzw. deren Entsprechungen) abzubilden.
- Der letzte Teil des Atlas ist eine 5-seitige Auflistung aller Herrscher bzw. Lehnsherren der in den politischen Karten aufgeführten Gebiete. Als Ordnungsprinzip dient dabei die absteigende Hierarchie der politischen Einheiten: Wer also unter dem Namen des Königreichs Garetien sucht, findet dort alphabetisch geordnet die zugehörigen Grafschaften und bei diesen wiederum, ebenfalls alphabetisch angeordnet, die zugehörigen Baronien. Wenn die Herrschaft über ein Gebiet umstritten ist, ist dies vermerkt, ebenso wurden bloße Anspruchsgebiete in der Auflistung als solche gekennzeichnet.
Einen Index sucht man in der Druckfassung des Atlas vergeblich, er wurde jedoch inzwischen als 11-seitiges PDF im Downloadbereich der offiziellen DSA-Homepage nachgereicht.
Soweit eine Kurzbeschreibung des Inhalts. Meine Überlegungen zu Vor- und Nachteilen des Bandes habe ich in drei Kategorien aufgeteilt: Konzeption – Ästhetik – Praktikabilität. Lestzeren mit, Benisabaya!
Konzeption
Gut gefällt mir hier erst einmal der Ansatz, geographische mit politischen Karten zu verbinden und das Ganze mit Kurzinformationen zu den Regionen und ihren Herrschern zu flankieren. Das ist grundsätzlich praktisch und fügt zusammen, was ich gerne gleichzeitig zur Hand habe (auch wenn es so natürlich leichte Dopplungen zur GA gibt).
Natürlich gibt es auch zahlreiche interessante Arten von Karten, die hier nicht enthalten sind: Karten im Ingame-Look, historische Karten, Verbreitungskarten, Karten, die Verlauf der Kraftlinien und wichtige magische Örtlichkeiten oder interessante Abenteuerschauplätze zeigen, Stadtkarten und vieles mehr. Derlei sucht man im Atlas vergebens, aber das heißt nicht, dass sie fehlen. Wenn alles, was mich an Karten interessieren würde und praktisch zu haben wäre, in einem Band versammelt wäre, würde dieser vermutlich 400 Seiten dick und würde vollfarbig auch entsprechend kosten. (Eine Aufteilung auf mehrere Bände senkt die Kosten zwar natürlich auch nicht, aber in diesem Fall wäre es für viele einfacher, sich genau den Kartenband herauszusuchen, der sie am meisten interessiert). Vom Ansatz her erscheint es mir daher schon sinnvoll, bei Bedarf und Interesse mehrere Kartensammlungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten anstelle von einer Mammut-Sammlung mit absolut Allem heraus zu bringen. Meine persönliche Favoritenliste würde da z.B. noch eine Sammlung mit Stadtkarten und eine mit Handelszonen und allerlei Verbreitungskarten umfassen.
Soweit also bislang noch kein Anlass zum Meckern, wahllos Herumbrüllen und Die-Katze-Treten. Ganz anders liegen diese Dinge jedoch, wenn man sich vor Augen führt, dass der Atlas sich auf die politischen Karten von Mittelreich, Horasreich und Aranien beschränkt. Im Klartext heißt das: Es gibt weder eine gesamtaventurische Übersichtskarte der Art, wie wir sie für das Jahr 30 Hal aus der Geographia Aventurica kennen, noch gibt es politische Detailkarten für die Tulamidenlande, den tiefen Süden, Nostria/Andergast, das Bornland, Thorwal und Gjalskerland und …
Das will mir nun gar nicht einleuchten, auch fällt mir kein guter Grund ein, der das irgendwie weniger ärgerlich machen könnte, als es ist. Platzmangel kommt hier als Begründung nicht in Frage. Den Mittelteil hätte man zugunsten zusätzlicher politischer Karten meinethalben ruhig opfern können, und ich bin mir sicher, den allermeisten wäre Vollständigkeit in dieser Hinsicht auch ein paar Euro zusätzlich wert gewesen.
Meinetwegen: Fjarninger, Ferkinas und andere Volksstämme könnte man wie Erze, (Gulmond)-Blätter und Orkland-Rotpüschel behandeln und Karten über deren Einflussgebiete zu den Verbreitungskarten zählen. Insgesamt fehlen für mein Empfinden aber einfach zu viele Karten, um den Eindruck einer halbherzigen Angelegenheit zu zerstreuen. Selbst, wenn man nicht jedes Jarltum und jede nostrische Binsen-Baronie minutiös aufgelistet hätte, wären bspw. ungefähre Grenzen der thorwalschen Einflusssphäre, von Brabak und Al‘Anfa oder der verschiedenen Herrschaftsgebiete in den Tulamidenlanden ein Muss gewesen.
Ich wünsche mir zwar, dass die fehlenden Karten in einem möglichen Folgeband nachgereicht werden, das ursprüngliche Konzept wird damit aber m.E. ad absurdum geführt. Dreht und wendet es wir ihr wollt: Ein Atlas mit unvollständigen politischen Karten ist kein Dschinnie-Streich, ganz egal, ob sich dies einem tiefergehenden Konzept oder unglücklichen Umständen verdankt. Aber ich gerate ins Spekulieren, kümmern wir uns daher lieber um schönere Dinge.
Ästhetik
Haptisch ist der Atlas durchaus ein Hinfühler. Die Karten fühlen sich angenehm an und es ist nett, im Band zu blättern, auch wenn ich jetzt nicht ganz klar sagen kann, woran das eigentlich liegt und warum es mir wichtig ist. Die geographischen Karten der Regionalspielhilfen sind für meinen Geschmack alle recht hübsch, so dass auch die geographischen Karten im Atlas grundsätzlich recht schmuck daherkommen.
Abzüge in der Ä-Note gibt es vor allem bei den politischen Karten. Ich finde diese zwar nicht durchgängig hässlich (insbesondere die Mittelreich-Überblickskarte und die Karten der einzelnen Mittelreich-Gebiete mit Ausnahme der Marken sehen für mein Empfinden gut aus, auch Aranien kann man sich gut anschauen), aber Horasreich, Schattenlande und Raben-/Wilder-/Traviamark wurde hier übel mitgespielt. Es treffen hier einfach zu viele Farben und Gestaltungsprinzipien aufeinander, und dann sieht es auch noch aus, als hätte jemand eine Packung Haribo Balla-Balla mit SÜßES SCHMELZE gefügig gemacht und dann missgünstig über den eingefärbten Karten ausgeschüttet. (Extrembeispiel in dieser Hinsicht: das nördliche Horasreich.) Auch verstehe ich nicht, wieso die Farbgestaltung bei den politischen Karten uneinheitlich ist. Die politische Karte zum Süden des Horasreichs verwendet bspw. andere Farbtöne als die des nördlichen Teils, und beide unterscheiden sich merklich von den Farben, die beim Mittelreich und bei Aranien Verwendung finden. Ironie des Schicksals: Da warte ich seit Jahren darauf, dass die Horatten auch mal richtig einen auf die gepuderte Zwölf bekommen, und dann muss ich mir das in meinem Atlas anschauen. Grmpf.
Ein durchgängiger Augenschmaus ist der Atlas somit also nicht, er erweist sich aber auch nicht als ästhetischer Totalausfall. „Unausgegoren“ ist hier wohl eher das Wort der Wahl.
Praktikabilität
Ok, so langsam begeben wir uns in den Bereich, wo es weh tun wird. Zunächst aber auch hier die Lichtblicke.
Gut finde ich erst einmal, dass bei den geographischen Karten nicht der Versuchung nachgegeben wurde, absolut alles zu beschriften, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Dass bspw. nicht alle Dörfer benannt wurden, die eigentlich einen Namen haben, ist vollkommen in Ordnung und sorgt für mehr Übersicht. Grundsätzlich findet man sich auf den Karten gut zurecht, die höhere Auflösung kommt der Lesbarkeit auch zu Gute. Zusammen mit der Übersichtskarte ist es auch ein Leichtes, sich im Atlas zurecht zu finden, wenn man nach einem bestimmten Kartenbereich sucht.
Die Übergänge zwischen den Karten sind überwiegend sinnvoll gestaltet, auch wenn es an ein paar Stellen vorkommt, dass Namen auf keinem der beiden Randgebiete vollständig zu lesen sind.
Die Auflistung der Herrscher, Lehens- und Würdenträger ist praktisch und erspart einem viel Zeit beim Suchen (dass sie nicht so nützlich ist, wie sie sein könnte, liegt an Gründen, die ich gleich darlege). Die Namen aller 1035 BF regierenden Barone (soweit festgelegt) wären zwar auch praktisch gewesen, angesichts des zu erwartenden Mehraufwands kann ich aber verstehen, dass an dieser Stelle gespart wurde.
Ursprünglich enthielt diese Rezension weiter unten einen sehr ungnädigen Absatz, der das Fehlen eines Index bemängelte und zahlreiche Wörter verwendete, die mir vermutlich den nächsten Integrationsbambi eingebracht hätten, wenn sie jemals den Limbus erreicht hätten. Da ein Index aber inzwischen als PDF nachgereicht wurde und ich PDF-Ergänzungen als Teil des rezensierten Produkts betrachte, konnte ich diesen Teil — Travia, Eevie und Alex sei‘s gedankt — wieder streichen. Dass es den Index gibt, ist dabei natürlich kein sonderlicher Vorzug des Atlas, sondern sollte eigentlich selbstverständlich sein. Lobenswert ist dennoch, dass schnell auf die zu Recht harsche Kritik reagiert und der Fehler ausgebügelt wurde. Schade ist allein, dass aufgrund des Fehlens eines Rasters oder Quadrantensystems der Index die einzelnen Begriffe nur Seitenzahlen zuordnet, was bedeutet, dass man bei dichter besiedelten Gebieten immer noch eine Weile braucht, bis man den gesuchten Ort gefunden hat.
Das war‘s aber leider auch schon mit dem, was ich positiv in Sachen Praktikabilität berichten kann, denn gerade in dieser Kategorie tritt der Band in gleich mehrere Ogerfettnäppfchen. Hacketau!
Bindung und Falz
Erster Fauxpas: Da allem Anschein nach auf einen Rand zwischen den Kartenteilen in der Mitte der Doppelseiten verzichtet wurde, sind von jeder Kartenhälfte zur Buchmitte hin geschätzte 2,5 bis 3 Milimeter (sprich: insgesamt jeweils knapp sechs Meilen pro Karte) nicht bzw. auch unter Einsatz extremer Gewalt kaum einsehbar. Auch wenn die gewählte Bindung einen ziemlich stabilen Eindruck macht und gerade bei einem Produkt wie dem Atlas mehr als wünschenswert ist, dass es bei regelmäßigem Gebrauch nicht auseinander fällt, wird dieser Vorzug hier aber sehr teuer erkauft.
Erstens kann man aufgrund der Bindung Orte, die in der Falz verschwinden*, teils nicht erkennen bzw. deren Namen nicht entziffern. Auch der Index hilft nur eingeschränkt weiter, wenn die Anfangsbuchstaben der gesuchten Namen fehlen. Nach unserer Zählung wurde dabei nicht nur die Oase El‘Ankhra in den Sand gesetzt. Auch 42 weitere Ortsbegriffe erweisen sich als nicht oder nur sehr schwer entzifferbar.
Zweitens werden vernünftige Entfernungsmessungen unnötig erschwert und spätestens dann nahezu unmöglich macht, wenn ganze Wege in der Falz verschwinden.
Um der allgemeinen Tendenz zu mehr Anspruch in der Rollenspiel-Kritik entgegenzukommen, deklamiere ich an dieser Stelle daher lautstark: Das war kein Heldenstück, Octavio!
[*] Manchmal sind auch die besten Wortspiele einfach so naheliegend, dass man nicht der 65te sein möchte, der sie bringt. Ich überlasse daher dem geneigten Leser die Aufgabe, bei Bedarf einen hübschen Satz mit „Falzgrafschaft“ zu konstruieren.
Kurze Werbeunterbrechung
Wir bei Xeledons Spottgesang können übrigens nicht nur motzen, sondern auch aufmotzen und präsentieren euch daher heute im Rahmen der großen Advents-Bastelstunde das neueste Produkt aus der Nandurion-Hobbythek mit Josch Pütz und Weihnachtself Daniel „Hör mal, wer da falzt“ Bruxmeier:
Das Nandurion Meilen-Lineal für den Aventurischen Atlas
Mein reizender Assistent hat das schon mal vorbereitet: Mit dem elastischen Papierlineal könnt ihr Entfernungen über die Falz hinweg bedeutend einfacher messen, zudem könnt ihr Entfernungen direkt ablesen, denn das Lineal ist an den Maßstab des Atlas angepasst und zeigt aventurische Meilen statt Zentimetern. Schlussendlich findet ihr auf der Rückseite des Lineals auch alle durch die Falz unleserlichen Begriffe nach Kartennummern geordnet.
Dieses Angebot ist nicht im Handel erhältlich, sondern nur bei Simias Werkbank. Also: Knickst Du noch oder misst du schon?
Damit zurück zur Rezension.
Politische Karten
Die politische Karten wurden oben schon einer ästhetischen Überprüfung unterzogen. Nun ist Hässlichkeit zwar stets im Auge des Betrachters (denn die Welt selbst ist schön) und auch zu verkraften, wenn dies der Preis ist, den man für eine leichtere Handhabung zahlt. So richtig praktisch sind die politischen Karten in vielen Fällen aber leider auch nicht. Manche der Karten sind auf eine Weise überladen, dass es einiges an Zeit erfordert, um sich in sie einzuarbeiten und sie halbwegs lesen zu können. Negativ fallen hier erneut Horasreich, Schattenlande und die Karte der vier Marken auf. Nie waren die Aussichten, sich im Bunten zurecht zu finden, so finster. (Meine Erfahrung sagt mir zwar, dass die Kartenaufteilung ab einer Entfernung von ungefähr 3/4 Meter Abstand zu den Augen deutlich transparenter wirkt, was aber nicht wirklich als mildernder Umstand zählt, sondern eher Disaster Area-Charme versprüht.)
Namen und wichtige Orientierungspunkte in den genannten politischen Karten werden durch Grenzen und Namen der Baronien teils auf eine Weise zugekleistert, die es extrem anstrengend macht, halbwegs zuverlässig Ergebnisse aus der politischen auf die geographischen Karten zu übertragen und beispielsweise zu entscheiden, ob man sich noch in Baronie X oder schon in Baronie Y befindet.
Unschön ist auch, dass die unterschiedlichen Farb- und Strichtypen, die für Grenzziehungen in den umkämpften Gebieten verwendet wurden, an keiner Stelle in einer Legende erklärt werden. Man darf sich also selbst zusammenreimen, welche Grenzen als fix und welche als variabel anzusehen sind, wo bloße Anspruchsgebiete und wo tatsächliche Machtbereiche dargestellt werden u.s.w. Im Redaxstübchen wurde auf diese Fragen zwar eingegangen, und auch der aktuelle Bote enthält einige Erläuterungen, ohne die ausführliche Auflistung der zusammengehörenden Baronien in Teil IV des Atlas ist aber bspw. die Karte der Marken immer noch nicht gut zu entschlüsseln. Insbesondere die Rabenmark und deren (fließende?) Grenzen stellen weiterhin eine Herausforderung dar, die problemlos zu späterer Stunde bei Schlag den Rab ihren Platz finden könnte.
Wohlgemerkt: Nicht alle Karten sind von diesem Problem betroffen, sondern nur die vier soeben genannten. Fast alle Karten leiden aber darunter, dass essentielle Informationen fehlen, nämlich die Namen für Grafschaften (bzw. allgemein für politische Einheiten zwischen Reichs- und Baronieebene). Deren Grenzen sind zwar eingezeichnet, aber man findet keinerlei Beschriftung oder namentliche Zuordnungen, und das, obwohl sie für viele Spieler vermutlich eine deutlich interessantere Gliederungseinheit sind als Baronien des Typs Bimsböckel-Wurstenteich.
Insbesondere im Fall des Horasreichs steht mein Verstand dann still angesichts der alleinigen Beschriftung der Baronien, denn hier haben wir es mit über 20 unbeschrifteten Einheiten zu tun, die jeweils nur aus 1 bis 3 Baronien bestehen. Hier wendet sich der Gast mit Grausen!
Ich will damit nicht sagen, dass man noch mehr Information in die Karten hätte stecken sollen. Nein, das will ich nicht, bei meiner Treu! Aber es hätte sicher einige Möglichkeiten gegeben, das hier aufgezeigte Problem zu lösen. Eine Möglichkeit wäre z.B. gewesen, die Baronien in Teil IV des Atlas (auch) alphabetisch zu ordnen. In der vorliegenden Form ist die Auflistung der Herrscher in jedem Fall nicht so nützlich, wie sie sein könnte. Denn zwar kann man dort erfahren, welche Baronien zu welcher Grafschaft gehören; um zu wissen, welches Gebiet in einer Karte welche Grafschaft ist, muss man aber zunächst einen zugehörigen Baronienamen aus der Karte fischen und dann so lange die Liste aller Baronien im Anhang durchgehen, bis man diesen Namen findet und so im Umkehrschluss die zugehörige Grafschaft erschließen kann. Das ist nicht nur umständlich zu beschreiben, sondern auch anstrengend in der Ausführung.
Ein wahres Einhorn hilft sich selbst — frisch also! Mutig ans Werk! Wir sind so frei, zusätzlich zum Atlas-Lineal auf der Grundlage von Teil IV des Atlas auch eine alphabetische Auflistung aller Baronien mit zugeordneten Grafschaften, Sultanaten etc. bei Simias Werkbank anzubieten, in der Hoffnung, dass diese für manche von euch von Nutzen ist. (Da noch Errata eingearbeitet werden sollen und sicher auch noch Fehler auszubessern sind, handelt es sich dabei noch um eine vorläufige Version. Über Kommentare und Fehlermeldungen freue ich mich unter josch@nandurion.org).
Abschließend sei ebenfalls erwähnt, dass im Fall von Aranien die Emirate nicht auf der Karte eingezeichnet sind und der Status des Yalaiad aus dem Material des Atlas nicht ganz klar hervorgeht. Auf Rückfrage war man so nett, mir mitzuteilen, dass der Status des Yalaiad weiterhin in der Schwebe gelassen wird und auf die Einzeichnung der Emirate deshalb verzichtet wurde, weil Emirate in Aranien nicht rein politische Einheiten sind und Emire vor allem in ähnlicher Funktion wie Richter, und damit auch übergreifend über verschiedene Beyrounate und Sultanatsgrenzen hinweg, aktiv sein können. Die Emirate wurden daher nur im Anhang aufgeführt. (Dank an André Wiesler für die schnelle Auskunft!).
Fehler
Inhaltliche Fehler sind lästig, auch wenn sie vermutlich unvermeidbar sind. Bei Karten fallen Fehler aber besonders ins Gewicht, da sie kaum oder nur sehr schwer zu korrigieren sind. Der größte Fehler im Atlas scheint die Zuordnung der Baronien Gadang, Gorbingen und Hengefeldt zur Markgrafschaft Perricum anstatt zum Anspruchsgebiet der Rabenmark zu betreffen. Dieser Fehler wurde schon im Rahmen der inoffiziellen Errata zur politischen Karte in Schild des Reiches in der Wiki Aventurica aufgeführt. Er scheint hier übernommen worden zu sein, es sei denn, hier deutet sich eine inhaltliche Entwicklung an, von der wir noch nichts wissen. Leutselig macht das Missgeschick in diesem Fall vermutlich nicht, aber auf meine Rückfrage teilte man mir mit, dass es zu der Frage „Bug oder Feature?“ noch eine Erklärung geben wird und überhaupt im Laufe der nächsten Wochen eine FAQ zum Atlas angedacht ist (und nochmal Dank an André!).
Die Baronie Efferdsträne hingegen scheint bei der Markgrafschaft Perricum einfach vergessen worden zu sein.
Vallusa wurde auf der politischen Tobrienkarte zu Tobrien gezählt, was m.W. nicht dem gegenwärtigen Stand der Dinge entspricht und auch im Übersichtskasten zu Tobrien in Teil II nicht aufgenommen wurde.
Ansonsten gibt es auch einige kleinere Benennungsfehler bei Orten (eine provisorische Sammlung findet ihr hier im DSA4 Forum). Wieviele Fehler der Rest und insbesondere Teil IV enthält, wird die Zukunft zeigen.
Die auf den ersten Blick vielleicht verwirrende Teilung der Präfektur Shamaham (die Karte der Schattenlande ist als PDF frei erhältlich) scheint übrigens einen tieferen Sinn zu haben, wie dieser Artikel im Ulisses-Blog andeutet. Warten wir‘s ab.
Kleinere Mäkeleien
Bleiben noch ein paar für sich weniger bedeutsame Ärgernisse, die sich aber doch auch aufsummieren:
Im geographischen Teil wurde die Aufteilung der abgebildeten Gebiete auf die Einzelkarten nicht ideal gelöst. An manchen Stellen bestehen ganze Karten überwiegend oder nahezu komplett aus Wasser. Das ist hübsch blau, aber ziemlich für die Katz. Gerade im Fall des Horasreichs erweist sich die gewählte Aufteilung als lästig, weil die Landmasse in Ost/West Richtung nicht auf einer Karte zu finden ist (geschätzt 1/8 des Gebiets liegt im Osten auf einer neuen Karte). Dies wiederum hat zur Folge, dass man, wenn man Erkenntnisse aus der politischen Karte übertragen möchte, man immer zwischen zwei geographischen Karten des Horasreichs hin und her blättern muss, und Baroniegrenzen dabei teils über die Karten laufen. Zusammen mit der Tatsache, dass schon auf der politischen Karte außer Grenzen und Namen kaum etwas zu sehen ist, führt das endgültig dazu, dass die politische Horasreichkarte Platz 1 auf der Nutzlosigkeitsskala erreicht.
Nicht nur die Bindung, auch die Farbwahl bei den Namen sabotiert (wie zuvor) an manchen Stellen die Lesbarkeit der Karten. Insbesondere Flussnamen sind teils weiterhin auch bei gutem Licht und mit Lesehilfe nicht zu entziffern, da blau auf blau oder blau auf grün gedruckt wurde (ähnliches gilt für manche Orte in Bergen, die schwarz auf braun sind). Schade, da wäre mehr drin gewesen. An mindestens einer Stelle wurden zwei Namen übereinander gedruckt.
Fazit
Was ist der langen Rede kurzer Sinn?
Nach der RatCon 2011 hatte ich mich sehr auf den Atlas gefreut und der Veröffentlichung des Produkts mit hohen Erwartungen entgegengeblickt. Diese wurden enttäuscht, auch wenn wir es nicht mit einer GAHUKA (größter anzunehmender HuK-Artigkeit) zu tun haben, denn hierfür bietet der Atlas jenseits von Kompostierbarkeit und dem Einsatz als Brennmaterial noch zu viele Nutzungsmöglichkeiten. Dennoch: Seit Mario Gomez‘ Auftritt bei der EM 2008 war die Formulierung, dass jemand „sein Potential nicht abrufen kann“ vermutlich nicht mehr so angebracht wie hier.
Hätte der Atlas politische Karten aller Reiche und weniger ausgeprägte Bindungsprobleme gehabt, wären die Namen besser lesbar gewesen, wären die politischen Karten durchgängig im Stile der besseren Exemplare und sinnvoll beschriftet gewesen und wären Fehler konsequent ausgebessert bzw. vermieden worden, dann hätte dieses Werk die Top-Bewertungen der grünen Reihe mühelos fortgeführt und sich in die höheren Ränge der Xeledon-Rangliste eingetragen. So ist die ganze Sache aber doch eher sub-primus geraten, um einmal bei horasischen Bewertungsagenturen beliebtes Neusprech zu verwenden. Hoffen wir nur, dass das aventurische Geschichtsbuch die grüne Reihe nun wirklich zu einem würdigen Abschluss bringt.
Vieles am Atlas schreit danach, in einer runderneuerten zweiten Auflage verbessert zu werden. Damit es zu dieser kommt, müsste die Erstauflage aber vermutlich erst einmal weggehen wie geschnitten Sauerbrot. Die Welt nicht nur schön, sondern auch sehr kompliziert. Wir haben das Unsrige getan. Tun Sie das Ihrige.
Uneingeschränkt kann ich diesen Band niemandem empfehlen. Für Komplettisten und Sammler wirkt der Band letztendlich verschenkt. Als Update zur Geographia Aventurica ist der Band letztendlich auch nur eingeschränkt erfolgreich, weil einfach zu viele Karten fehlen. Für Nicht-Sammler gilt: Je mehr Karten man bereits hat, desto reizvoller dürfte es sein, bei Interesse einfach die fehlenden Karten durch den Einzelkauf zu ersetzen oder auf das von Ulisses kostenlos bereitgestellte Kartenwerk zurückzugreifen, anstatt sich den Atlas zuzulegen.
Am besten geeignet dürfte der Band für alle diejenigen sein, die überwiegend ohne Regionalspielhilfen, sondern nur auf Grundlage der Geographia Aventurica spielen und denen dabei das kostenlose Kartenwerk nicht ausreicht und für alle, die gerne neben ihrem bisherigen Kartenarsenal über eine kompakte und robuste Sammlung verfügen möchten. Die politischen Karten sind (trotz zweier Totalausfälle und einer nur halbgelungen, und trotz der fehlenden Beschriftungen der Grafschaften) immer noch recht nützlich, ebenso wie die Herrscherlisten. Dass sie viel, viel nützlicher hätten sein können, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Wie dem auch sei, ich hab‘ kein Amt hier und bloß eine Meinung, und dies sind die Resultate der maraskanischen Jury: [Anmerkung der Redaktion: Den hierauf folgenden Kladj haben wir für euch geschwind in ein paar Zahlen zusammengefasst:]
Ästhetik: 1 von 2
Konzeption: 1,5 von 3
Praktikabilität: 1,5 von 4 (Index mit eingerechnet)
Damit ist es amtlich: Vier von neun Rentieren gehören zur alten Schule und sind bereit, für den Atlas auf ihr GPS zu verzichten.
zl;bt: So grade noch Arsch über Latte. Oder, dem Volke aufs Maul geschaut: Trotz einiger Qualitäten mit Tendenz zum Dysfunktionalen.
Hervorragende Rezension und wie immer mit sehr delikatem Witz geschrieben – vielen Dank!
Erstklassige Rezi! Wunderbar zu lesen und ein großes Lob für die Mühen an den Verfasser! Ich wünschte alle DSA-Werke würden auf diese Art und Weise beurteilte werden.
Und ich wünsche, viele DSA-Werke würden auf diese Art und Weise verfasst werden …
Wie stets bleibt die Kritik bei allen Punkten, die sie bemängelt, fair und zudem höchst unterhaltsam. Danke für den alten Gassenhauer, den Song habe ich seit 1W6+3 Jahren sicherlich nicht mehr gehört. Mit dem Ohrwurm werde ich heute leben müssen. 🙂
Großes Lob mal wieder an die Rezensionsabteilung von Nandurion! So muss das meiner Meinung nach aussehen, wenn man gleichzeitig die potentielle Käuferschaft informieren, das interessierte Publikum unterhalten und den Verantwortlichen Feedback über das, was gut gelungen ist, aber auch was sie in Zukunft besser machen müssen, geben möchte. Ich ziehe meinen Hut, die Herrschaften!
Wenn die Rezension mehr Spaß macht als das Produkt, dann darf sich der Rezensent auf die Schulter Klopfen, und die Autoren müssen sich schämen. Danke für dieses schöne zweite Türchen.
Josch, der Karl-Heinz Witzko der Rollenspielblog-Welt.
Herrliche Rezension und der Punktzahl stimme ich auch zu.
Dankeschön dafür.
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Ganz herzlichen Dank für die vielen wohlmeinenden Worte, Bruderschwestern! Und ich möchte mich bei allen entschuldigen, die seit dem Lesen der Rezension in der mentalen „I would walk 500 miles“-Schleife gefangen sind. Das hört eines Tages wieder auf, versprochen! Im Zweifelsfall helfen dieselben Hausmittel wie gegen Schluckauf oder das hier:
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