Das Thalassion – unendliche Wiederholungen eines Memes, das mittlerweile jeder satt haben dürfte. Wir schreiben das Jahr 2016. Das bedeutet: Dies ist die Rezension, die pünktlich zum einjährigen Jubiläum der Veröffentlichung von Myranische Meere erscheint.
Myranische Meere ist, wenig überraschend, der Seefahrtsband für das östliche Myranor. Auf 208 Seiten und für 40 € (Totholz – allerdings möglicherweise nicht schwimmfähig!) oder 20 € (PDF und auf einer Festplatte noch nichtmal wasserfest) wird erklärt, was die Myraner so mit dem nassen Element anfangen.
Das Buch ist in zehn Kapitel und drei Quasi-Anhänge aufgeteilt. Die Menge der Bilder ist dabei gut zur Auflockerung des Textes und Illustration des Beschriebenen geeignet, leider aber in der Qualität mit einigen Ausfällen, z. B. bei den Speziesbildern, versehen, über die auch andere wunderschöne Werke nicht ganz hinwegtrösten können. Das Korrektorat ist akzeptabel, was gerade bei myranischen Publikationen ja noch keine Selbstverständlichkeit ist.
Inhalt
Nach dem Vorwort beginnt das Buch mit einer Abhandlung über die Meere des östlichen Myranors, die aus westlichem und östlichem Gletschermeer, Thalassion, See des Schweigens, Meer der Schwimmenden Inseln und der Kategorie „Weitere Seegebiete“ besteht. Die entsprechenden Beschreibungen werden aufgeteilt in Geographie, wohnhafte kulturschaffende Rassen und besondere Meeresbewohner sowie Mysterien und Gefahren. Nach diesem Kapitel hat man also schon mal eine gute Idee, wo man hinreisen kann, wen man dort trifft und auf welche Abenteuer der einen schicken kann. Einziger Wermutstropfen: Die Lyncil, die im Abschnitt zum westlichen Gletschermeer als dessen bedeutendste Seefahrer genannt werden, werden im restlichen Buch, was zum Beispiel verwendete Schiffstypen angeht, komplett ignoriert.
Das nächste Kapitel, Meere und Seefahrt im Spiegel der Zeiten, bereitet die Geschichte der myranischen Seefahrt auf, beginnend zwar nicht im Urschleim, aber doch zumindest mit ein paar Spekulationen über das Zeitalter der Vielbeinigen. Detaillierter wird es natürlich im Zeitalter der Meeresrassen. Tatsächliche Jahreszahlen folgen dann bei der Chronologie der menschlichen Seefahrt – inklusive Exodus und Kolonialisierung Aventuriens und dem Entstehen des Efferdwalls Thalassischen Banns. Also der letzten viereinhalb Jahrtausende.
Unter dem Meer
War das letzte Kapitel angesichts des in seiner Vergangenheit schwelgenden Imperiums schon nicht völlig uninteressant, kommt jetzt meines Erachtens die Perle des Bandes: In den Tiefen der Meere. Während man bei vielen Unterwassersettings das Gefühl bekommt, dass das Recherchematerial der Autoren nicht weit über Arielle hinausging, merkt man, dass sich die Verfasser hier und in den folgenden Kapiteln Gedanken über eine lebende Unterwasserwelt gemacht haben und dabei an einem Ort angekommen sind, der nach Campbells Regeln der Science Fiction das Wundersame weltlich und das Weltliche wundersam erscheinen lässt: Auf der einen Seite nehmen die Meeresbewohner, also die Risso, Mholuren, Nequaner und wie sie alle heißen (und zwei Kapitel später noch genauer vorgestellt werden), Dinge als selbstverständlich an, die uns fremdartig erscheinen – beispielsweise die permanente Möglichkeit, sich in drei Dimensionen zu bewegen. Auf der anderen Seite macht das Meer aus den für uns simpelsten Dingen Herausforderungen. Man denke an das einfache Vorhaben, eine Suppe zu kochen, wenn kein Feuer entzündbar ist, jede Hitzequelle direkt auf die Umgebung abstrahlt und die Suppe selbst sich direkt mit dem Wasser vermischt. Die menschlichen Nequaner haben dafür eine Lösung (Unterwasserstädte mit Luftaufbereitung, „Trinkblasen“ und Ventile in ihren Anzügen), aber allein die Frage zu stellen „Wie trinkt man eigentlich unter Wasser?“ ist ein Schritt zu einer Welt, von der man das Gefühl hat, dass sie nicht nur Abenteuerkulisse ist, sondern wirklich funktionieren könnte.
Aber der Reihe nach: In diesem Kapitel werden zunächst grundlegende Hindernisse beim Tauchgang besprochen, die sich aus Tiefe, Temperatur, Sicht und anderen Faktoren ergeben. Dann werden Wege aufgezeigt, wie über eine Lungenfüllung hinausgehende Tauchabenteuer zu meistern sind, beginnend mit aquatischen Wesen als Helden und weitergehend mit gefühlt dreihundertzwölfzig Methoden, Wasseratmung zu erlangen. Wem das noch immer nicht reicht, der kann auch einen Demergator besteigen und mit Flutenmeister Nequamo auf der Jagd nach Roter Chrysir feststellen, was das Boot abkann. Hintergründe, dramaturgische Hinweise und später auch Regeln finden sich jedenfalls genug.
Im gleichen Kapitel werden dann folgend die verschiedenen Unterwasserlandschaften aufgeschlüsselt. Schelf, Gezeitenküsten, Kelpwälder, Korallenriffe, Unterwasserhöhlen und -berge, Kontinentalhang, offene See und Tiefsee werden allesamt als Lebensraum und unter Berücksichtigung von Bewohnern, Ungeheuern und Gefahren betrachtet, dazu kommen noch zwischen einer halben und vier Seiten Wertekästen von typischen Kreaturen. Abgeschlossen wird der Abschnitt durch 9 Seiten Infos über untermeerische Städte, der den einzelnen Spezies jeweils ein klar erkennbares und unterscheidbares Gesicht verleiht, von den märchenhaften Kristall- und Korallentürmen der Tritonen über die cthulhuesken Bauten der Krakonier bis zu den pragmatischen leicht steampunkig anmutenden Städten der Nequaner.
Be- und Anwohner des Meeres
Völker auf, in und an der See heißt das nächste Kapitel, aber „auf“ und „an“ hätte man sich beinahe schenken können – der Text handelt vorrangig von den neuen, zum größten Teil untermeerisch lebenden SC-Spezies, den Pristiden (Hammerhaimenschen), Ruritirna (cthulhueske Krakenviecher), Norkosh (siebengeschlechtliche Muschelwesen), Loualil und Tritonen (klassische Meerjungfrauen), Risso (Fischmenschen), Mholuren (grausame Molchwesen), Ziliten (weniger grausame Molchwesen), Hippocampir (Seepferdchenmenschen, liebevoll auch „Trompetenfressen“ genannt) und schließlich Nequaner (untermeerische Menschen mit Hang zum Kommunismus). Sie alle werden plastisch dargestellt und gut voneinander abgegrenzt. Nach dem Lesen des Kapitels habe ich das Gefühl, sie sowohl als SC als auch als NSC gut darstellen zu können. Nur als NSC hingegen taugen einige weitere Wesen, die am Kapitelende dargestellt werden: Krakonier, Homarier (Aventuriern auch als Hummerier bekannt), blaue und schwarze Mahre, Monommaten (degenerierte Meereszyklopen) und Dagathim (tiefe Wesen).
Myraner und das Meer ist dann wieder auch für weniger exotische Heldengruppen und Abenteuer zu gebrauchen, denn hier geht es um die reguläre myranische Seefahrt, inklusive Hinweisen zum Leben auf See, zu Aberglauben, Magie- und Liturgienutzung, typischen Handelsgütern und den einzelnen Flotten und ihren Flaggen.
Daran schließt sich ein Kapitel über die Gesetzlosen der Meere an, wo neben generischen Strand- und Meerespiraten sowie Schmugglern auch ein genauerer Blick auf die Kulturen der Abishai, Nyamaunir und Utländer geworfen wird. Ebenso wie im vorangehenden Kapitel ist das gezeichnete Bild des Hintergrunds lebendig und gut für Darstellungen im Abenteuer verwendbar.
Wenn sich zwei Schiffe nicht ganz doll liebhaben…
Bei den Schiffen des östlichen Myranor finden sich genau diese – knapp über zwanzig Schiffstypen, darunter auch Demergatoren, dazu Bordwaffen und Zubehör. Alles soweit ganz interessant, leider fehlt mir als Schiffstypus ein typisches Heldenschiff, bevorzugt imperial, klein und für Flussschifffahrt zu gebrauchen – ein Äquivalent zur Tänzerin aus Efferds Wogen. Und wenn ich die Wertekästen so sehe, mit denen alle Schiffe versehen sind, überkommt mich ein ganz ungutes Gefühl …
… das sich im nächsten Kapitel auch bestätigt. Seekampfregeln für Myranor. Wie hab ich sie doch nicht vermisst. Ein kurzes Durchblättern zeigt: Nein, sie haben sich gegenüber Efferds Wogen nicht geändert und sind damit ebenso langatmig und unpraktikabel wie die aventurischen. 24 Seiten für die Katz und ich entschuldige mich bei allen anwesenden Amaunir. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die aventurischen Regeln Erweiterungen für Demergatoren erhalten haben, aber das reißt’s auch nicht raus.
… und der ganze Rest
Blättern wir also weiter zu den Mysterien der myranischen Meere. Dort gibt es zum Beispiel nequanische Geheimbünde, Geisterschiffe, einige geheimnisvolle Orte und auch Übergänge nach Tharun zu entdecken, deren Ausarbeitung wieder ein wenig mit dem Buch versöhnt.
Abgeschlossen wird das Buch von den Generierungswerten der aquatischen Spezies (und Kampfwerten der NSC-Spezies), neuen Traditionsaufsätzen und Repräsentationen (aquatisch Interessierten sei auch nochmal das Ritual Der Fels in der Brandung aus Myranische Geheimnisse ins Gedächtnis gerufen), dazu noch einem Vor- und einem Nachteil, Sprachen, Schriften und Namen. Übrigens, liebe Autoren: Wer „Dagathim und Krakonier führen oft sprechende Namen aus ihren vokalreichen Sprachen“ schreibt und dann als Beispielname „Chazz’Zstt“ ins Feld führt, mit dem möchte ich nochmal ein Gespräch über unsere schöne, mit Vokalen geradezu überladene, deutsche Sprache führen. Dahinter folgen dann noch ein hilfreiches Glossar, Deckpläne für Katamarane, Dschunken und Schaufelradgaleeren (eine stärker ausgearbeitete Schaufelradgaleere samt Plan findet sich übrigens im Myranischen Zauberwerk) und ein Index.
Fazit
Man merkt es schon an der recht positiv gehaltenen Inhaltsbeschreibung: Myranische Meere gefällt mir gut. Es hat sowohl Inhalte für diejenigen, die das Meer von oben für klassische Seefahrtsabenteuer betrachten, als auch für diejenigen, die gar nicht genug „e“s in ihr Unter dem Meeeer packen können. Insofern haben 9 Monocorne ihre Seesäcke geschnürt und sich auf große Fahrt begeben. Eins ist leider über den Seekriegsregeln eingeschlafen und hat den Ausstieg verpasst – mit einem Abschnitt z.B. über Flussschifffahrt wäre es glücklicher gewesen. Ein zweites ist vor Schreck über manche der Illustrationen glatt von Bord gefallen, wurde aber von einigen detailliert ausgearbeiteten untermeerischen Freunden gerade noch vor dem Ertrinken gerettet. So gehen am Ende der Fahrt ganz knapp acht zufriedene Einhörner von Bord und beschließen, in Zukunft öfters mal die See zu bereisen.
Danke für die Rezension, Cifer, jetzt kauf ich’s.
Eines meiner Lieblingsbände. Wobei gesagt sei das ich generell die Qualität der Myranor Veröffentlichungen deutlich über der von Aventurien sehe. Kann was mit dem Verlag zu tun haben 🙂
Da müsste man jetzt erstmal definieren, was „Qualität“ ist – sowohl Uhrwerk als auch Ulisses haben da meines Erachtens jeweils Bereiche, in denen sie sich mittlerweile vom anderen positiv absetzen, als auch solche, die öfters mal nah an der Grenze zum Ausfall sind.
Ich spreche von dem Flair der Ingame- Texte, der Gliederung der Bücher und im Allgemeinen vom Hintergrundmaterial. Aber es ist meine subjektive Meinung, mit der ich jedoch zumindest in meinem Rollenspiel- Freundeskreis nicht alleine bin.
Gruß