Vorteil Vergesslicher Schimpanse

»13. Getroffen!«
»Häh? Hast du deinen Zustand Schmerz und die Dunkelheit berücksichtigt? Und was ist mit der erhöhten Position des Gegners und dessen höherer Reichweite?«
Dialog am Spieltisch

Kürzlich behauptete ich in einem Kommentar, der spezielle Spieler-Typus des Munchkin sei eine Variante des Power-Gamers, die zudem bereit ist auch die Regeln zu brechen oder zu schummeln, um das Ziel zu erreichen und das Spiel zu gewinnen. Zwischenzeitlich kamen mir Zweifel an dieser Abgrenzung. Man erahnt es vielleicht, wenn man folgende Szenen aus dem realen Leben vor seinem inneren Auge abspielt.

Neulich in der Rollenspielrunde

  • Der Erste würfelt trotz einer modifizierten AT von 7 (35% Trefferwahrscheinlichkeit) einen erfolgreichen Angriff nach dem anderen, gute AT inklusive.

  • Der Zweite feuert mit seinem Elfen jede KR seinen Bogen in den Nahkampf ab, flitzt gleichzeitig immer neu in beste Schussposition, behält all seine Gegner im Auge und hält diese durch geschicktes Augenmaß immer auf ausreichend Distanz.

  • Der Dritte trägt auf einmal Rüstung und Schild, obwohl er gerade eben noch in den 40° heißen Quellen gebadet hat.

  • Die Liste ließe sich wohl mit jeder neuen Aktion der Spieler fortsetzen.

Wenn im Wald ein Baum umfällt, aber niemand ist da, um es zu hören, gibt es dann ein Geräusch?

Wenn der Affe bescheißt, aber Tarzan merkt es nicht, ist es dann trotzdem geschummelt?

Vermutlich kennen die meisten die Situation. Entweder aus eigener Erfahrung oder doch zumindest aus erster Hand. Im Eifer des Gefechts vergisst der Schütze seine verschossenen Pfeile zu notieren und stellt erst später fest, dass er eigentlich nach der Hälfte des Kampfes schon keine Munition mehr hatte. Der Meister hat einen Haufen komplizierter Modifikatoren verteilt und nach einem üblen Treffer vergisst der Spieler die nächste Stufe Schmerz zur Anwendung zu bringen. Eine Spieler-Figur wurde in der letzte Sitzung verflucht und nach zwei Drittel der Sitzung fragt ein Mitspieler nach einem Wurf verwundert: Hattest du nicht einen Fluch? Die Liste ließe sich endlos fortführen. Oftmals ist es einfach nur Vergesslichkeit. Wer soll bei der Vielzahl der Modifikatoren und Zustände auch noch den Überblick behalten? Sowas kann schon mal passieren.

Natürlich soll hier niemandem seine Unachtsamkeit als Schummeln ausgelegt werden. Doch als Spielleiter und langjähriger DSA-Konsument stellte ich mir schon gelegentlich die Frage, wie viel Unachtsamkeit soll ich eigentlich tolerieren? Wenn ich wieder einmal feststelle, dass ein Spieler die Regeln nur zur Hälfte gelesen und bestenfalls zu einem Drittel verstanden/behalten hat, so dass unliebsame Einschränkungen nicht greifen. Wenn eine klare Hintergrundsetzung einfach ignoriert oder kreativ neu interpretiert wird, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Wenn zentrale Elemente, die zur Herausforderung des Abenteuers gehören, vergessen/ausgeblendet werden. Oder schlicht, wenn physikalische oder gesellschaftliche Realitäten einfach als störende Details ignoriert werden.

Realitätsfilter für Anfänger

»Was passiert in deiner kleinen komischen Welt, wenn wir nicht vor dir davonlaufen? Bringst du uns dann mit deiner Suppentasse um?“ – „Da ist Tee drin…«
Riddick – Chroniken eines Kriegers

Jeder baut sich seine eigene Realität. Das ist grundsätzlich auch gut so, denn das vergrößert in bestimmten Situationen des Spaß für alle. Was aber, wenn dies dazu führt, dass die eigene Figur einen deutlichen Machtzuwachs hat, der einen unfairen Vorteil gegenüber anderen Spielern verschafft oder sämtliche Herausforderungen einfach abschüttelt wie Lotosblüten das Wasser. Dann beginnt für mich eine Einflussnahme auf das Spiel, die den Spaß zumindest für die übrigen Spieler schmälern kann.

(Bild von elaly bei Pixabay)

Nachteile? War da was? (Bild von elaly bei Pixabay)

Ich als Meister habe allerdings wenig Lust ständig zu kontrollieren, ob die Spieler die Regeln für ihre Figuren auch richtig anwenden. Es nervt mich, wenn ich ständig klarstellen muss, dass der Rucksack mit dem Heiltrank noch im Lager liegt oder die Selbstbeherrschungsprobe den gleichen Modifikatoren durch Zustände unterliegt, wie andere Talentproben auch. Unsicher bin ich häufig auch darüber, ob der schludrige Umgang mit den Regeln nicht viel eher den Regeldesignern anzulasten ist. Wenn ich für eine Kampfsituation drei dynamische Zustände, zwei Umgebungsmodifikatoren und weitere individuelle Erschwernisse berücksichtigen muss, ist es kein Wunder, wenn jemand den Überblick verliert. Dort wo Effektbeschreibungen verkürzt und schludrig ausgeführt werden, kommt es leicht zu Fehlinterpretationen. Regeln die niemand findet, weil sie an völlig unerwarteter Stelle stehen, kann auch niemand richtig anwenden. Und die Vorstellung mangelhaftes Balancing der Regeln sei durch ästhetisches Empfinden der Spieler zu ersetzen, finde ich beleidigend.

Am Ende kann ich die Fragen nicht beantworten. Wo beginnt die Verantwortung des Spielers für das gemeinsame Spiel? Wie viel „Vergesslichkeit“ ist erlaubt? Wann schreiben die Designer des Schwarzen Auges endlich Regeln, die man auch wirklich benutzen kann? Muss ich mich wirklich um all das kümmern und wie sind die Lottozahlen nächste Woche?

Vielleicht hat ja jemand da draußen Antworten. Spielt die Frage, ob jemand die Regeln oder den Crunch seiner Figur richtig anwendet, eine Rolle am Spieltisch? Gibt es jemanden, der darüber wacht oder ist das alles nur unnütze Korinthenkackerei? Soll doch jeder nach den Regeln spielen, die ihm gerade passen.

Schon gewusst

  • Die Wahrscheinlichkeit bei einem AT-Wert von sieben, acht mal hintereinander erfolgreich anzugreifen beträgt gut 0,0225%. Das ist weniger als doppelt so viel wie die Wahrscheinlichkeit für eine 3-fach Eins. Das vergessen/ignorieren eine Modifikators von −2 verbessert diese Wahrscheinlichkeit bereits auf einen Wert von 0,168% oder dem 13,5-fachen der 3-fach Eins. Das entspricht dann grob der Wahrscheinlichkeit mit einem AT-Wert von sieben eine Gute AT zu bestätigen.

  • Auch wenn die Ladezeit einer Fernkampfwaffe in DSA5 durch Sonderfertigkeiten unter Eins fällt, verbraucht das Laden dennoch eine freie Aktion. Wenn dann noch eine Aktion für das Schießen aufgewendet wird, stehen der Figur in dieser KR nur noch Verteidigungen zur Verfügung. Die Aktion/freie Aktion „bis zu GS in Schritt laufen“ lässt sich damit nicht mehr ausführen. Und nein, der Elf beherrschte nicht den Irbrasch-Stil.

  • Es gibt tatsächlich Orte menschlicher Besiedlung, an denen es als unhöflich betrachtet wird, wenn ein Fremder ständig schwer bewaffnet und kampfbereit umher marschiert. Unter solchen Exoten wird auch das Spazierentragen von Kriegsgerät, in der Hand gehalten oder an den Arm geschnallt, sehr kritisch beäugt.

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5 Antworten zu Vorteil Vergesslicher Schimpanse

  1. Scoon sagt:

    Ich kann die generelle Kritik nur bedingt teilen. Ja, viele Modifikatoren am Spieltisch machen es für den Meister, aber auch für die Spieler schwer den Überblick zu behalten. Deswegen mag ich Nachteile, welche keine aktive Position des SL benötigen (Unfähigkeiten, geringe LE etc.). Auf der anderen Seite sind natürlich gerade die aktiven Nachteile im Spiel spannend.

    Unabhängig davon finde ich jedoch den Anspruch auf ein Spiel das sowohl abwechslungsreich, als auch einfach ist nur begrenzt zielführend. Je weniger komplex ein Spiel ist, desto weniger Optionen bietet es. Die beiden Punkte stehen sich diametral gegenüber und sind nahezu unmöglich gleichzeitig zu bedienen. Es wird in dieser Hinsicht immer ein Kompromiss notwendig sein.

  2. Fred Ericson sagt:

    Da erkenne ich mich und meine Gruppe wieder. Die Vielzahl der Modifikatoren empfinde ich auch als Belastung (pun intended) am Spieltisch.

    Ich habe mir überlegt, ob ich nicht eine Art „Zahlenstrahl“ basteln soll, der die Gesamtzahl an Modifikatoren darstellt und mit Markern (Sichtmodi, Zustände …) belegt wird. Einen für jeden Spieler. Nervig wird es mit der gegnerabhängigen Distanzklasse, kommt es doch nicht selten vor, dass man gleichzeitig gegen Gegner, deren Waffen eine unterschiedliche Distanzklasse verwenden, kämpft.
    Dann hätte man die Modis auf einen Blick vor sich und wenn etwas hinzukommt, legt man den nächsten Marker an.
    Da man dann allerdings immer noch Distanzklassen- und Manöveraufschläge einrechnen muss, und das Ding wieder Platz auf dem Spieltisch beansprucht, bin ich mir nicht sicher, ob der Aufwand lohnt.

    • FRAZ sagt:

      Ich hätte da zwei Tipps für einen einfacheren DSA4.1 Kampf:
      1. Bei misslungenen Aktionen wird der Malus nicht auf die nächste Aktion angerechnet, wie WdS vorgibt.
      Stattdessen haben wir es so gelöst, dass den Gegner ein Passierschlag zusteht, erleichtert um Malus des misslungenen Manövers
      Beispiel: Dem Helden misslingt sein Wuchtschlag +4. Der Gegner kontert direkt mit einem Passierschlag, der um 4 Punkte erleichtert ist.
      Mit dieser einfachen Regelung entfällt schon Mal viel Rechnerei.

      2. Wir haben die DK Tabelle so umgeändert, dass immer nur die eigenen Werte verändert werden, nicht die des Gegners:
      Eine Waffe mit DK H bringt im Handgemenge eine AT Vorteil. Bei größerer Distanz zum Gegner beschert die kurze Waffe Abzüge auf AT & PA.
      Eine Waffe mit DK S bringt bei optimaler Entfernung einen PA Bonus. Im Handgemenge bringt die Waffe Abzüge auf AT & PA.

  3. FRAZ sagt:

    Hallo Krassling.
    Zuerst einmal: ich mag deine Kolumne! Vielen Dank dafür!

    Das Problem, die Zustände, Abzüge und Modifikationen nachzuhalten, kenn ich auch leidlich.
    In der Praxis könnte ein Marker helfen, den du auf den Helden Bogen stellen oder legen kannst.

    Das eigentliche Problem ist aber, dass vermutlich zwei Drittel deiner Spielergruppe dein Problem gar nicht nachvollziehen können. War zumindest in meinen Runden immer so. 😉

    Du hast beim letzten Mal über unterschiedliche Spieler Typen gesprochen. Tatsächlich sind doch von den sieben Typen, die Robin Laws vorstellt, nur ein oder zwei an Regeln interessiert.
    Die meisten wollen einfach ihre Figur ausspielen, die Geschichte erleben oder Orks spalten. Und dabei haben sie einfach keine Lust, sich mit Misserfolgen herum zu ärgern oder an ihren Spielwerten herum zu rechnen.

    Das ist kein Angriff gegen dich oder dein Abenteuer und es ist auch keine arglistige Täuschung. Nach meiner Erfahrung haben viele Spieler einfach nicht den Anspruch an sich selbst, sich im Spiel regeltreu zu verhalten.
    Aber wir, als Spielleiter, haben oft ganz andere Anforderungen an das Spiel. Oft sind wir Spielleiter die peniblen Regelfüchse, die alle Regelbücher und Quellbände durchgearbeitet haben und großen Wert auf Authentizität legen.

    Ich hatte in jeder meiner Spielrunden mindestens eine Spielerin, die nie das Regelbuch aufgeschlagen hat.
    Ich hatte einen Spieler, der am Ende der Spielsitzung genau wusste, wie viel SP er verursacht hat, aber nicht mehr, wer sein Gegner war.
    Ich hatte eine Elfe, die beim Steigern den Nachteile „Elfische Weltsicht“ komplett ignoriert hat, weil sie den zu kompliziert fand.
    Als ich mich dann mit der Elfen Spielerin fürchterlich gestritten habe, wegen ihrem „Betrug“, stellte sich schnell heraus, dass die anderen Spieler sich dadurch Null gestört fühlen.
    Letztlich habe ich meinen Frieden damit gemacht, dass meine Spieler sich nicht für Regeltreue interessieren. Und seitdem kann ich auch entspannter leiten. Win-win.

    • Krassling sagt:

      Sehr gute Punkte, die du da nennst. Vieles davon dürfte auch auf die Menschen mit denen ich spiele oder gespielt habe zutreffen.
      Schade finde ich es allerdings, wenn bestimmte Umstände Spannung oder Athmosphäre erzeugen sollen und dann unter den Tisch fallen. Das lässt das Spielerlebnis dann wieder deutlich flacher ausfallen. Andererseits gehört das natürlich wiederum gar nicht zu den Interessen aller Spieler. Und die Frage ob Misserfolge überhaupt zum Repertoire einer Heldengruppe gehören, wird in einer eigenen Kolumne beleuchtet.

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