Sternenleere

Gastrezension von Leif Jurgeson

Roman_Sternenleere_CoverDie Sternenleere – die Lücke im Sternenhimmel, die der Namenlose schlug und in die er nun gekettet ist, mithin sein Sternbild – gibt dem Kurzgeschichtenband seinen Namen. Man darf also namenloses Wirken erwarten. Zugleich mag der Titel auch auf das Leeren des Himmels von Sternen als Folge des Sternenfalls anspielen. Dieser ist im engeren Sinne eine Nacht Ende Travia 1039 BF, in der auf ganz Dere Sterne – oder zumindest Himmelskörper unterschiedlicher Art – vom Himmel hinab stürzen. Jedoch können auch ähnliche, dieser Nacht vorausgehende und nachfolgende Fälle zum Sternenfall gezählt werden. Der Band umfasst 24 Kurzgeschichten, die sich mehr oder weniger intensiv mit dem Sternenfall, mit dessen Vorboten und Nachwehen sowie kosmologischen Ereignissen im weitesten Sinne beschäftigen. Für diese mag der Sternenfall Symptom und/oder Ursache sein. Verfasst wurden die Geschichten von 17 Autorinnen und Autoren, darunter die Mitglieder der DSA-Redaktion und viele langjährige DSA-Schreiberlinge. Manche steuerten entsprechend mehrere Geschichten bei, die teilweise auch inhaltlich verbunden sind.

Dabei zeigen uns die Kurzgeschichten des Bandes prominente Meisterpersonen oder Menschen in ihrem – teilweise erschütterten – Leben. So können wir in Gareth Emmeran Stoerrebrandt und Kalman Karinor in ihrem Alltag und ihrem Wetteifern um ein ganz besonderes Kleinod beobachten, Azaril Scharlachkraut und ihren Gedanken in einem horasischen Weinberg folgen, Zeuge der magischen Macht des Horas werden, in Sinoda die Visionen Milhibethjidas der Kindlichen erleben, den Führern Yol-Ghurmaks zuhören und zweimal sogar den Gesprächen wahrhaftig mächtiger Wesen lauschen. Auf der anderen, nicht so prominenten Seite können wir drei Hexen beim unterhaltsamen Prophezeien aus dem Suppentopf zuschauen, mit einer Perainegeweihten den mysteriösen Visionen einer Garetherin nachgehen, Zeuge eines nicht ganz alltäglichen Bündnisses in Nostergast werden, einem ungewöhnlichen Paar unter das ewige Eis folgen oder mit einem mittelreichischen Praioten über das mögliche Ende der Welt nachdenken.

Dabei springen die Geschichten an die verschiedensten Orte Aventuriens und manchmal darüber hinaus (nach Myranor und in den Limbus). Hierbei wird vom Ewigen Eis bis zur Wüste Khôm, von den hohen Eternen bis nach Yol-Ghurmak vielen Regionen ein Besuch abgestattet. Die Schwerpunkte liegen dabei im Horasischen, im Bornischen und vor allem auch in Gareth – dennoch dürfte die Mischung nicht nur LiebhaberInnen dieser Regionen, sondern allen Leserinnen und Lesern genug interessante Erzählungen bieten.

Zeitlich erstrecken sich die Geschichten von den Dunklen Zeiten bis in eine ungewisse Zukunft, wobei der Schwerpunkt klar auf der Jetzt-Zeit liegt (zwölf der 24 Geschichten) und die Nacht des Sternenfalls Ende Travia 1039 BF selbst besondere Beachtung findet (weitere neun Geschichten), den wir so aus unterschiedlichsten Blickwinkeln erfahren können. Manche Geschichten haben auch nur am Rande mit dem eigentlichen Sternenfall zu tun, für sie ist dieser eher Hintergrund oder Aufhänger, ohne eine größere Beachtung und Interpretation zu finden. Insgesamt bietet der Band mit vielen verschiedenen Schlaglichtern auf die Ereignisse und deren Interpretationen einen bunten Strauß an Erzählungen.

Dabei kehren manche Motive immer wieder: Zentral ist – wie auch schon im Titel des Bandes – das Auftauchen von Anzeichen des namenlosen Gottes und seiner Anhänger. Wir finden verborgene Heiligtümer des Güldenen, verfolgen namenlose Rituale, können uns aber auch theoretisch-theologisch mit diesem beschäftigen. Es scheint, der Dreizehnte wird stärker – oder ist dies nur die Interpretation der unterschiedlichen ProtagonistInnen? Doch nicht nur der Namenlose wird thematisiert, generell ist viel von aufsteigenden und fallenden Göttern, von zweifelnden Gläubigen sowie von verborgenen Kulten und deren Hoffnungen auf ein (Wieder-)Erstarken zu lesen – Alveran und die Glaubenswelten in Aventurien scheinen im Umbruch. Feinde werden zu Verbündeten, Gläubige scheitern an ihrem Glauben oder widmen sich diesem nur umso inbrünstiger.

Jenseits dieser großen mythologischen Entwicklungen können wir aber auch die Auswirkungen der kosmologischen Ereignisse auf einzelne Menschen, auf deren Alltag und Leben verfolgen. Sterne und Steine fallen vom Himmel, zerstören, verändern und stoßen Handlungen an. Der Sternenfall, so scheint es, tangiert alle AventurierInnen, auch in den entlegensten Winkeln des Kontinents. Wer ihn in jener Nacht selbst erlebt, kann sich ihm nicht entziehen. Wer ihn nicht persönlich mitbekommt, erfährt davon durch BeobachterInnen und aus den Gazetten – und kann die Spuren sehen, die einschlagende Himmelskörper hinterlassen. Für die sternkundige Bevölkerung zeigen sich zudem große Änderungen am Sternenhimmel, wie sich wandelnde Sternbilder des Zwölfgötterkreises. Viele deuten den Sternenfall, ziehen Lehren daraus, sehen darin dunkle Vorzeichen oder Verheißungen. Andere wiederum stehen ihm auch gleichgültig gegenüber.

Was bedeutet das für das Spiel in Aventurien? Fast jede Heldin und jeder Held wird vermutlich einen Bezug zu der Nacht haben, in der die Sterne fielen, oder sich erinnern, wie sie oder er davon erfuhr. Vielleicht deutet jemand die Ereignisse für sich und lässt sich davon leiten. Die Glaubenswelt mancher HeldInnen wird womöglich auf den Kopf gestellt und uralte Sicherheiten werden brüchig. Andere mögen dem ganzen nicht viel Bedeutung und Schrecken zuschreiben. Dennoch könnte der Sternenfall auf vielfältige Weise als Ausgangspunkt einer Heldenlaufbahn genutzt werden. Er hat das Potenzial für Rollenspiel und für spannende Abenteuer, dabei kann für jeden etwas dabei sein. Mich zumindest inspirierten die Kurzgeschichten auf vielfältige Weise zu Abenteuern (auch über den Sternenfall hinaus).

Die Geschichten lesen sich gut und nahezu allesamt kurzweilig. Sie sind – bei Kurzgeschichten nicht verwunderlich – schnell zu lesen und damit für die Lektüre zwischendurch oder mit größeren Unterbrechungen geeignet. Alle Geschichten bieten über den Sternenfall hinaus einen Einblick in das Leben verschiedener Kulturen und Glaubenswelten Aventuriens, und das so breit gefächert, dass sie einen guten Überblick über den Kontinent gewähren. Die Erzählungen, die sich zudem mit bekannten Meisterpersonen und Wesen beschäftigen, haben mir besonders gut gefallen.

Jedoch zeigt sich bei vielen Geschichten das Problem, dass sie mehr oder weniger voraussetzungsreich sind. Nicht alles wird – trotz Glossar – erklärt und ist ohne genauere Kenntnis kultureller und mythologischer Hintergründe zu verstehen. Dabei spielen manche der Erzählungen gerade auch mit Andeutungen und mythologisch-theoretischen Fragestellungen, deren ausführliche Erläuterung und Erklärung den Geschichten ihre Wirkung nehmen würden. Und auch die Beiträge, die sich mit großen Meisterpersonen beschäftigen, gewinnen ihren Reiz unter anderem aus dem Vorwissen über diese bei der Leserin oder beim Leser. Insgesamt ist der Band also trotz eines für EinsteigerInnen interessanten Rundumblicks auf aventurische Lebens- und Glaubenswelten mehr eine Lektüre für fortgeschrittene und sogar sehr erfahrene DSA-Konsumenten. Diesen bietet er allerdings ein anschauliches Panorama über die vielfältigen Ereignisse im Sternenfall und dessen (potenzielle) Auswirkungen – vom ländlichen Alltag über die Gedanken von Gelehrten und die Agenden von KultführerInnen bis hin nach Alveran und in die Sternenleere.

Der Band hat mir sehr gut gefallen, die Geschichten waren fast durchgängig unterhaltsam und boten schöne Einblicke in Aventurien und den Sternenfall. Da einige Geschichten je nach individuellem Wissen über die Spielwelt die Leserin oder den Leser etwa unbefriedigt zurücklassen, ist der Band nicht unbedingt für jeden etwas. Ich vergebe sieben Einhörner, für DSA-Neulinge mögen es weniger sein, für DSA-Veteranen jedoch auch mehr.

Bewertung Einhorn 7

Nandurion dankt Leif Jurgeson für die Gastrezension!

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