Retro-Rezension: Über den Greifenpass

Über den Greifenpass - CoverIn unserer kleinen Retroserie darf ein wahrer Klassiker nicht fehlen, auch wenn das Wort womöglich etwas abgegriffen wirkt. Hier ist es durchaus angebracht, denn unzählige Spielrunden dürften mit diesem Kleinod ihre ersten Erfahrungen in Aventurien gesammelt haben und abgegriffen ist eher meine Originalausgabe, da sie zu häufig bespielt wurde. Die Rede ist von Thomas Finns Meisterwerk “Über den Greifenpass”, das gar nicht sooo retro ist wie die meisten anderen Werke dieser Reihe: Es erschien “erst” 1998 und gehört zur Riege der DSA3-Publikationen.

Die vordergründige Besonderheit des Werks dürfte vermutlich seine Eigenschaft als “Einsteigerabenteuer” sein. Dies wird auch gleich im augenzwinkernden Vorwort aufs Korn genommen, ohne die erfahrenen Spielrunden zu vertreiben: Denn abgesehen vom niedrigen Niveau der Heldencharaktere und einer fünfseitigen Spielhilfe fürs Spielleiten steht der Band vermeintlich “vollwertigen” Gruppenabenteuern in kaum etwas nach. Apropos: Die Spielhilfe war lange Zeit eine echte Hilfe, heute findet sich eine ausführlichere und – meiner Meinung nach – auch gelungenere Variante im DSA5-Grundregelwerk.

Über den Greifenpass (im Folgenden ÜdG) bringt dennoch alles mit, um auch heute noch eine wundervolle Spielerfahrung zu bereiten: Eine tief im aventurischen Hintergrund verwurzelte Geschichte, die sich erst nach und nach offenbart, erinnerungswürdige Schauplätze und Figuren, eine motivierende Haupthandlung, sehr stimmungsvolle Nebenhandlungen und ein furioses Finale. Natürlich ist nicht alles Gold, was glänzt: ÜdG ist ein Paradebeispiel für heftiges Railroading. Zugutehalten muss man dem Werk, dass es hierbei eine elegante Lösung findet, denn der namensgebende Pass bietet eine natürliche Barriere, die es vor allem unerfahrenen Spielleitungen leicht macht, die Gruppe zusammenzuhalten, ohne dass diese bemerkt, wie eingeschränkt sie ist. Bevor wir näher darauf eingehen, wieso das Abenteuer trotz übertriebenem Railroadings dennoch hervorragend auch in erfahrenen Spielrunden funktioniert, werden wir uns mit dem Inhalt beschäftigen.

Ab hier reitet das Spoiler-Rieshorn

Über den Greifenpass - Bestiarium

(Bild von Ruud van Giffen)

Das Abenteuer nimmt einen enorm weiten Anlauf: Die Handlung, die im Beisein der Helden kulminieren wird, umspannt vierhundert Jahre und geht bis in die Magierkriege zurück. Damals versuchte sich der größenwahnsinnige Schwarzmagier Algorton an verrückten Chimärenexperimenten und tyrannisierte die Bevölkerung des Koschs. Eines Tages verschwand er spurlos. In der Gegenwart ist die nicht weniger größenwahnsinnige Hexe Yala Sintelfink durch Zufall auf die Hinterlassenschaften des Magiers gestoßen und bezog unlängst eine alte Magierfestung in den Bergen. Nach einigen Studien fand sie heraus, dass es Algorton gelungen war mörderische Chimären zu züchten. Yala träumt fortan von einer Armee aus treuen Chimärendienern. Doch nicht alle Bauteile und Zutaten sind in der alten Magierfeste zu finden. Eine wichtige Komponente, die Kristallkugel des Schwarzmagiers, befindet sich mittlerweile im Garnisonskeller von Gratenfels, einer Stadt in den Nordmarken, an der Grenze zum Kosch. Yala heuert Schurken an, die, als Bestiarium getarnt, Untiere wie einen Bären, einen Riesenhirschkäfer und einen Tatzelwurm anlässlich eines Volksfestes in die Stadt bringen und des Nachts freilassen sollen. Im bevorstehenden Chaos möchte Yala die Kristallkugel rauben und obendrein den gemütlichen Magister Balthusius entführen, der sich auf die Kristallomantie versteht. Just an besagtem Abend und angelockt vom Volksfest, sind auch die Helden in der Stadt, die das bunte Treiben genießen und hier und dort kleine Heldentaten vollbringen dürfen. Eine davon ist die Rettung des jungen Hauptmanns Arto aus einer misslichen Lage, der sie anschließend überschwänglich zum Abendessen mit der Familie seiner Verlobten einlädt: Lena Balthusius, die Tochter des Magisters. Die folgende Abendgesellschaft bietet Anlass für herrliches Rollenspiel, denn neben den spontanen Gästen hat sich auch eine Bibliothekarin im Hause Balthusius eingefunden, die im Auftrag Stoerrebrandts unterwegs sei; niemand geringeres als Yala Sintelfink. Das Abendessen hat das Potential zu einem der unvergesslichsten “awkward-moments” in der DSA-Geschichte zu werden, was insbesondere an Tom Finns unvergleichlichen Einsprengseln liegt, mit der das kuriose Tischgespräch im Gange gehalten wird. Insbesondere Yala Sintelfink dürfte nach dem Abend eine der gehassliebtesten NSCs überhaupt sein und die Motivation entsprechend groß, ihr im Folgenden das Handwerk zu legen.

Nachdem die Gesellschaft auseinander gegangen ist, gelingt Yala ihr Schurkenstück und sie raubt, zunächst unbemerkt, die Kugel und den Magister. Im Chaos der Nacht werden die Helden zu … Helden und am nächsten Tag vom Grafen geehrt und mit dem delikaten Auftrag betraut, die verlustig gegangenen Dinge wieder zu beschaffen. Daraufhin gilt es Nachforschungen in der Stadt anzustellen, um wenigstens einen Anhaltspunkt zu gewinnen. Schließlich weiß Lena Rat und es geht: Über den Greifenpass!

Denn obwohl man mit dem Einstieg einen ganzen Spielabend beschäftigt sein dürfte, befinden wir uns erst auf der fünften Seite des Abenteuers, das im Folgenden zu einer mehrteiligen Verfolgungsjagd wird, die gespickt ist mit Aktivitäten und überraschenden Wendungen. Kaum glaubt man, am Ende der (tatsächlich ersten) Etappe den vermeintlichen “Hexenturm” erreicht zu haben und das Abenteuer beenden zu können, da geht es erst richtig los! Es geht durch unzählige Dörfer, vorbei an Zauberinnen, freundlichen Hexen, wachenden Einhörnern, rastenden Orks und so weiter. Es muss obendrein eine Hochzeit gerettet, ein Fluch gebrochen und eine Feenwelt durchschritten werden, bevor die Helden auch nur in die Nähe des finalen Handlungsschauplatzes gelangen. Ach ja, es wäre auch noch ein gefangener Kobold zu erwähnen. Dann endlich geht es durch die alte Mine des Schwarzmagiers in seine Feste, wo natürlich bereits ein perfides Ritual im Gange ist. Unnötig zu erwähnen, dass Mine und Feste erneut klassische Dungeons sind, deren Räume pickepackevoll mit wahnsinnig guten, spannenden und abstrusen Ideen sind. Im Endkampf werden noch einmal alle Register gezogen und spätestens jetzt sind auch die Anfängerhelden gestandene Recken. Was für ein Spaß!

Spoiler Ende

Nicht nur für Anfänger spannend!

Über den Greifenpass - Herdmonster

(Bild von Ruud van Giffen)

Die Jagd der Helden ähnelt im Aufbau stark der klassischen Heldenreise, wie aus antiken oder mittelalterlichen Epen. Auf dieser Reise passieren die wunderlichsten Dinge, der Abwechslungsreichtum kennt kaum Grenzen. Nachdem man als Neuspieler ÜdG überstanden hat, kennt man sich in den wichtigsten Dingen des Schwarzen Auges aus, da es eine enorme Bandbreite abdeckt: Soziale Interaktion, Detektivspiel, Reiseabenteuer, Dungeon, Kampf, Entdeckung, Magie in gleich vier Ausprägungen (gildenmagisch, hexisch, koboldisch, sowie Feenmagie) und dabei trotz des Railroad-Reiseteils aufgrund der Fülle nicht als “Abklappern von Stationen” wahrgenommen wird. Hinzukommen absolut erinnerungswürdige NSCs, mit echten Ecken und Kanten, hervorragenden Charakterbeschreibungen und Ideen für das Ausspielen. Auch heute, über zwanzig Jahre nach Erscheinen, eignet sich ÜdG als hervorragendes Werk für neue Spielleitungen, das problemlos mit einem Grundregelwerk bespielbar ist. Nachteilig ist lediglich, dass das Austauschen und Modifizieren der alten Regelbasis für heutige Spielrunden die Einsteigerfreundlichkeit wieder etwas in Mitleidenschaft zieht.

Heute noch die erste Wahl!

Ich habe ÜdG mindestens fünfmal in unterschiedlichen Gruppen geleitet, darunter mit Schülerinnen und Schülern. Bis heute ist es das Einstiegsabenteuer, von dem ich weiß, dass es einerseits motivierend und unterhaltsam genug ist, um die Spieler bei Laune zu halten und andererseits sehr viel aventurisches Flair und Hintergrundwissen versprüht; teilweise sogar verschwenderisch damit umgeht. Nicht, dass man mich falsch versteht: ÜdG hat durchaus Schwächen, die sich insbesondere erfahrenen DSA-Veteranen rasch offenbaren. Doch unter bestimmten Gesichtspunkten, muss es als Meisterwerk zählen:

Ich bin ungefähr seit 1998 Spielleiter und ÜdG ist in einer bestimmten Situation stets mein bester Pfeil im Köcher: Nehmen wir an, eine neue Spielrunde würde mich bitten, dieses “Pen and Paper-Rollenspiel” auszuprobieren, von dem man schon so viel gehört habe. Nehmen wir ferner an, dass ich womöglich nur einen einzigen Versuch hätte, um diese unwissenden aber neugierigen Menschen vom Reiz und der Schönheit unserer liebsten Freizeitbeschäftigung zu überzeugen und sie erfolgreich in unser Hobby zu ziehen. Ich würde sie ohne zu zögern über den Greifenpass schicken und kann nur jeder und jedem empfehlen es mir gleichzutun. ÜdG ist nicht etwa ein Einstiegsabenteuer, weil es in irgendeiner Weise ein reduziertes, abgespecktes Erlebnis bieten würde. Das Gegenteil ist der Fall! Es ist deshalb ein Einstiegsabenteuer, weil es Spieler und Helden mit der reinsten Form mittelaventurischen Flairs bestrahlt und ein fantastisches Fundament legt, an dem alles andere angedockt werden kann. Ja, es ist überladen, überreizt und übertrieben. Aber auch in den 2020er Jahren ist es meine erste Wahl, mit der ich Neulinge in die Welt des Schwarzen Auges ziehen werde.

Meine Wertung orientiert sich somit in erster Linie an diesem Zweck (und meinen durchweg positiven Erfahrungen und Rückmeldungen). Gestandene DSA-Veteranen und Spielleitungen, die Probleme haben die alten Regeln an ein heutiges Regelwerk anzupassen, dürfen getrost zwei Hörner abziehen. Wer aber darüber hinwegsehen kann, sieht mit mir ganze 9 Rieshörner über den Greifenpass traben.

Weitere Rezension:

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7 Antworten zu Retro-Rezension: Über den Greifenpass

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  2. Der Mönch sagt:

    Kann ich nur bestätigen! Habe das Abenteuer auch zweimal für Anfänger geleitet, und dass hat super gut funktioniert – Also, in dem Sinne, in dem du es hier beschrieben hast. Topp Arbeit von Tom Finn!

  3. Der Mönch sagt:

    Achso, und super Rezi 🙂

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  5. Galen sagt:

    Habt ihr eine gute Idee, wo man dieses schöne Abenteuer kaufen kann?
    Die üblichen Verdächtigen (ulisses-ebooks, …) schweigen sich aus, auf Amazon wird eine Ausgabe für 54,90 angeboten …

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