Das Dornenreich

Das Dornenreich

Das Cover von Marcus Koch entführt uns ins märchenhafte Aranien.

Bereits im Oktober 2019, also vor einer gefühlten Ewigkeit, erschien mit Das Dornenreich der märchenhafte Regionalband für Aranien. Warum es vom skeptischen Rieshorn Thorus auf die ganz lange Bank geschoben wurde und warum dies ein gewaltiger Fehler war, lest ihr in der folgenden Rezension.

Erscheinungsbild und Bandstruktur

Der Band ist nach demselben Schema aufgebaut wie die bisherigen Regionalspielhilfen der fünften Edition des Schwarzen Auges: Nach einer kurzen Einführung, die auch irdische Einflüsse und Inspirationen benennt, folgen die inhaltlichen Kapitel bis hin zu einem ausführlichen Index. So weit, so bekannt. Dass diese starre Bandaufteilung in letzter Zeit immer wieder für Kritik gesorgt hat, ist ebenfalls schon häufig genug thematisiert worden. Es gibt diesbezüglich vermutlich ebenso viele positive wie negative Stimmen. Hinter den für alle Spieler*innen frei einsehbaren Abschnitten schließt sich der knapp dreißigseitige Mysteria-Teil für die Spielleitung an. Das bewährte Lesebändchen lässt sich einsetzen, um beide Teile gut voneinander abzugrenzen. Insgesamt kommt die Regionalspielhilfe auf den mittlerweile üblichen Umfang von 194 vollfarbigen Seiten, die, so viel darf bereits jetzt gesagt sein, abermals mit wundervollen Illustrationen aufwarten.

Bevor wir uns dem Inhalt widmen, möchte ich eines der bislang stimmungsvollsten Cover der bislang erschienenen Regionalspielhilfen (im folgenden RSH) loben, das uns Marcus Koch gezaubert hat: Eine Geschichtenerzählerin, die mittels Illusionsmagie den sprichwörtlichen Zauber von 1001 Nacht vor einem Publikum faszinierter Kinder präsentiert. Das macht Lust auf mehr!

Orte und Handlungsschauplätze

Dornenreich S.33

Auf ins Abenteuer! Illustration: Annika Mahr

Nicht weniger als sieben Regionen Araniens, das lautmalerisch als das namensgebende Dornenreich umschrieben wird, finden wir in der Spielhilfe. Sogleich wird uns die etwas unübersichtliche politische Lage erläutert, bei der die abermals sehr guten Landkarten zum Zuge kommen: Nicht alle beschriebenen Regionen zählen nominell zu Aranien, doch werden sie allesamt vom Dornenreich beeinflusst und teilen sich ein gemeinsames Setting: Das Tor zu den Tulamidenlanden.

Die nicht immer bequeme Nachbarschaft zu Mhanadistan und Gorien bietet bereits auf den ersten Blick Aufhänger für reichlich rollenspielerisches Konfliktpotential. Positiv hervorzuheben ist, dass sich die sieben aranischen Regionen tatsächlich spürbar unterscheiden. Das Dornenreich betritt hier als RSH gewissermaßen Neuland, denn bislang wurden uns zumeist zwei Reiche bzw. Provinzen innerhalb einer Spielhilfe vorgestellt: Zum Beispiel Nostria und Andergast, Nordmarken und Kosch, Windhag und Albernia, bzw. Thorwal und das Gjalskerland in der neueren RSH Gestade des Gottwals.

Im vorliegenden Werk, das mit Aranien nur ein Reich thematisiert, können die einzelnen Regionen und Orte daher ausführlicher behandelt werden, was sich insbesondere bei den Stadtbeschreibungen positiv bemerkbar macht, die sowohl quantitativ als auch qualitativ umfangreicher ausfallen.
Insofern bricht die Spielhilfe aus dem üblichen Schema der Regionalspielhilfen aus und ähnelt eher der (großartigen) Stadtspielhilfe für Havena. Diese Designentscheidung tut dem Werk gut, denn der Darstellungsfokus springt nicht wie in den anderen RSHs innerhalb eines Kapitels zwischen zwei Reichen umher.

Glanzlichter der Spielhilfe sind sicherlich die Stadtbeschreibungen von Elburum, Llanka und Palmyrabad, die allesamt auch Stadtpläne spendiert bekommen haben. Höhepunkt im Reigen der Städte und Orte ist schließlich Zorgan, das die ausführlichste Beschreibung und den größten Stadtplan erhalten hat.

Protagonisten und Antagonisten

Im Kapitel “Rang und Namen” begegnen uns zahlreiche schillernde NSCs, die vermutlich die bislang abwechslungsreichste und diverseste Personenriege in einer DSA5-Spielhilfe verkörpern und altbekannte Figuren ebenso wie Neuankömmlinge stimmungsvoll in Szene setzen. Neben dem obligatorischen Herrscherpaar, sind es vor allem “Allerweltsaventurier”, die das Setting tragen: Der Untergang Orons und das Zusammenraufen zweier Systeme ist auch in den Biographien der meisten Zeitzeugen noch spürbar und man kommt nicht umhin, diverse irdische historische Parallelen zu erkennen, von denen das Autor*innenteam um Zoe Adamietz hier reichlich Gebrauch macht; wohlgemerkt nicht zum Schaden des Settings: Die aranische Wiedervereinigung liegt mittlerweile etwas mehr als eine Dekade zurück und dennoch ist die Zerrissenheit auch im Alltag noch spürbar und Misstrauen und Revanchismus liegen in der Luft.

Vierzehn Persönlichkeiten werden ausführlich und mit einem eigenen Porträt vorgestellt; dutzende weitere Charaktere verteilen sich auf die Folgeseiten und sind, wie in bisherigen RSHs, direkt in die Ortsbeschreibungen eingebunden.

Positiv hervorzuheben ist, dass die Motive und Geheimnisse der Figuren fast durchweg spannend und abenteuerrelevant sind; das Kapitel (und der zugehörige Mysterienanhang) scheint tatsächlich auf die Verwendbarkeit am Spieltisch hin verfasst worden zu sein und verzichtet weitgehend auf die etwas zu nüchterne und unspektakuläre Wiedergabe von Fakten, wie sie in den Flusslanden oder den Gestaden des Gottwals präsentiert wurden.

Regeltechnisches

Eines meiner Lieblingskapitel ist das kleine aber feine Bestiarium, das mit insgesamt zehn Kreaturen eine mehr als zufriedenstellende Anzahl landestypischer Wesen beinhaltet. Ich gehe soweit und behaupte, dass eine exzellente Wahl getroffen wurde, um die Atmosphäre des Settings hervorragend zu unterstreichen: Von exotischen Haustieren wie dem Pardel, über den absolut großartigen Rennkuckuck (Ich will einen haben!!) bis hin zu mystischen Wesen wie der Sphinx finden sich sinnvolle Ergänzungen für Liebhaber der orientalischen Fauna. Gleiches gilt für das Herbarium, das allerdings erneut etwas schmal ausgefallen ist.

Freuen dürfen sich besonders Freund*innen von magischen Professionen: Für Illusionsmagier aus Zorgan, Aranische Hexen oder Zaubertänzer sollte der Band ein Pflichtkauf sein. Positiv fällt auf, dass die Anzahl an magischen Professionen angenehm überschaubar ist, was genug Platz lässt, um diese wirklich vollständig auszubreiten. Wer beispielsweise eine aranische Hexe spielen möchte, braucht neben dem Grundregelwerk und der vorliegenden RSH tatsächlich keine weiteren Zusatzbände, um voll auf ihre Kosten zu kommen. In der Tiefe ist dies vergleichbar mit der nostrischen Hexe oder dem Druiden aus Andergast (vgl. Die Streitenden Königreiche) und zeigt somit, dass weniger manchmal mehr sein kann.

Aber auch Fans von profanen Archetypen kommen auf ihre Kosten. Viel Fluff und viele Regelergänzungen für Charaktere aus der Region ergänzen sich zu einer tatsächlichen Aus-Spiel-Hilfe. Während es nach „Genuss“ der (aus meiner Sicht stark verunglückten) Flusslande– oder Gestade des Gottwals-RSHs nicht ganz schlüssig sein könnte, wie eine Bewohnerin der jeweiligen Region tatsächlich glaubwürdig auszuspielen ist, lässt das Dornenreich hier keine Wünsche offen.

Mein Regelhighlight ist das Kapitel zu Hintergründen bzw. Motivationen von SCs aus dem Dornenreich. Auf knapp fünf Seiten finden sich Ereignistabellen über Erfahrungen und Erlebnisse der Heldin oder des Helden in Kinder- oder Jugendjahren, die entweder ausgewählt oder ausgewürfelt werden können. Diese Fährnisse reichen zurück bis zur Geburt! Beispiel gefällig? Als meine aranische Einbrecherin auf die Welt kam, verkündete eine Sphinx, dass ein mysteriöser Fremder großen Reichtum in ihr Heimatdorf bringen wird. Während der Kindheit verirrt sich meine kleine Aranierin einmal in der Wildnis und findet auf wundersame Weise zurück nach Hause. Einige munkeln, dass die Götter eingegriffen hätten, um sie zu leiten. In ihren wilden Jugendjahren war sie rettungslos verknallt in Arkos Shah II. und sammelte alles, was sie in Zeitungen und Mitteilungen über ihn finden konnte. Seither ist sie mit dem Hoftratsch bestens vertraut und kennt den Stammbaum der Herrscherfamilie besser als ihren eigenen.

Das alles wurde mit einem 3W20-Wurf ausgewürfelt. Die Mechanik selbst ist nicht neu, aber noch nie wurde sie bislang so detailverliebt und kreativ umgesetzt.
Ebenfalls im Regelteil enthalten: Unzählige neue Waffen und Rüstungen, sowie Werte und Wertigkeiten von Handelswaren und Gütern; Neue Professionen, passende Rituale, Zauber und Zaubertricks sowie Liturgien des Phex. Nichts von alledem wirkt wie ein Fremdkörper, alles fügt sich beeindruckend harmonisch ins „Look and Feel“ der Region ein. Großartig!

Rüstzeug für Spielleiter

Die Spielleitung findet im gesamten Buch zahlreiche Spielanreize, um die werten Spielerinnen und Spieler viele Monate bis Jahre im Dornenreich auf Trab zu halten. Ich schreibe bewusst von Anreizen, da die Anzahl an echten plot hooks und Abenteuerideen gar nicht so groß ist. Vielmehr sprüht die Phantasie beim Lesen, so dass sich diverse Aufhänger im Kopf einer erfahrenen Spielleitung von ganz allein manifestieren. Zwar finden sich in der Havena-Stadtspielhilfe immer noch mehr Ideen, doch unter den „echten“ RSHs ist das Dornenreich vorerst das neue Maß aller Dinge, wobei vor allem der Anhang eine wichtige Rolle spielt: Hier werden Hintergründe ausgeleuchtet und persönliche Motivationen der wichtigsten Protagonisten aufgedeckt. Dabei hilft uns auch das “geheime Bestiarium”, denn die Anzahl weiterer Kreaturen und NSCs im SL-Teil ist ebenfalls recht ansehnlich ausgefallen. Ich halte fest, dass das Kapitel “Mysteria & Arcana” des Dornenreichs diesen Titel am bislang deutlichsten verdient hat. Neue oder noch nicht sehr langgediente SLs des Schwarzen Auges werden in diesem Kapitel mit Wahrheiten konfrontiert, die sie anhand der vorherigen Kapitel wohl nicht haben kommen sehen. Man rechnet mit dem üblichen netten Abschluss und der einen oder anderen sprichwörtlichen “Leiche im Keller”, aber das Dornenreich packt am Ende noch einmal (wortwörtlich) die “Peitsche” aus und lässt die nun eingeweihte Spielleitung bis zur letzten Seite dieses Werks nicht mehr los.

Atmosphäre und Spielspaß

Dornenreich S.33

Auch die Action kommt nicht zu kurz. Illustration: Elif Siebenpfeiffer

Ich bin ehrlich: Ich habe vor dem Lesen der Spielhilfe einige Stimmen gehört, die den Band als nicht ganz so gelungen wie die vorherigen erachteten. Daher lag er bei mir sehr lange auf dem “Pile of Shame”, wurde sprichwörtlich auf die lange Bank geschoben. Ein Fehler, denn das Dornenreich hat mich absolut positiv überrascht: Die Atmosphäre des Settings, das als “Tor zu den Tulamidenlanden” in mehrfacher Hinsicht zwischen den Welten hängt, wurde wunderbar eingefangen. Aranien liegt als Scharnier zwischen dem Mittelreich und dem aventurischen Süden und ist innerlich gefangen zwischen einer geteilten Vergangenheit und einer wiedervereinigten Gegenwart, in der noch längst nicht alles geklärt und offenbart wurde. Die Städte und Orte versprühen einen märchenhaften Charme, ohne in das Klischeefettnäpfchen mit den “verschlagenen Kamel- und Teppichhändlern auf dem Basar, die den Mittelreichern die Dukaten aus der Tasche ziehen wollen” zu treten. Die Entscheidung, das Hauptaugenmerk auf die Zerrissenheit innerhalb der Gesellschaft und das Konfliktpotential mit den Nachbarländern zu legen war und ist daher goldrichtig: Aranien ist kein Abziehbild eines eurozentrischen Pseudo-Orients, sondern eine glaubwürdige, erlebenswerte aventurische Region, in der es an jeder Ecke Heldinnen und Helden des Schwarzen Auges bedarf; vorzugsweise direkt aus der Region (denn ihr wollt den Hintergrundgenerator nutzen!!)
Nicht zuletzt wird der regionale Metaplot stimmig und spannend weitergeschrieben. Alte Handlungsfäden werden nicht etwa abgeschnitten (Gruß nach Thorwal!), sondern aufgegriffen und glaubwürdig weiter geführt. Gleichzeitig machen die gegenwärtigen Entwicklungen Lust auf mehr und bereiten vielversprechende Plotentwicklungen vor, auf die man gespannt sein darf.

Fazit

Die Designentscheidung, dass man auf die übliche Dualität zweier Reiche in den Regionalspielhilfen verzichtet hat, ist eine mehr als willkommene Abwechslung. Zudem ist Aranien mit seiner Licht- und Schattenseite und den sieben sehr unterschiedlichen Regionen so vielfältig, dass es die 194 Seiten starke Spielhilfe mühelos ausfüllt, ohne sich den Platz mit einem womöglich ebenfalls interessanten Nachbarstaat zu teilen. Wäre es mit Mhanadistan oder Gorien in eine RSH gegossen worden, wären zwar einige Längen bei den Beschreibungstexten minimiert worden, aber auch sehr viel Inspiration und “Zauber” verloren gegangen. Das Dornenreich folgt somit dem von mir hochgelobten Aufbau der bislang besten Spielhilfe (Havena) und beweist, dass auch innerhalb eines abgesteckten Settings reichlich Platz für stimmungsvolles Spiel gegeben ist. Dass die “problematischen Nachbarn” jederzeit wirtschaftlich und diplomatisch in das Setting hineinreichen, wird dennoch nicht außer Acht gelassen, was mir ebenfalls sehr gut gefällt. Aranien hängt in der aventurischen Gegenwart ein wenig zwischen den Zeiten und Reichen, aber somit auch nicht im luftleeren Raum. Selten wurde ein – immer noch junger – Staat, der an vielen Stellen auf wackligen Beinen steht, so atmosphärisch dicht beschrieben.

Die Riege der interessanten Persönlichkeiten und die Fülle an möglichen Plots und zu entdeckende Geheimnisse runden diese ausgezeichnete Spielhilfe ab. Kritik gibt es allenfalls für einige redundante Beschreibungstexte oder den einen oder anderen Flüchtigkeitsfehler, der vom Lektorat übersehen wurde. Allerdings fällt dies im Gegensatz zur von mir sehr viel stärker kritisierten Spielhilfe Die Flusslande nicht sonderlich schwer ins Gewicht.

Ein abschließendes Wort noch zum Lesegenuss: Während ich bei den Flusslanden und den Gestaden des Gottwals noch den „Geographieschulbuch-Duktus“ scharf kritisieren musste, liest sich das Dornenreich tatsächlich fast durchweg märchenhaft und stimmungsvoll. Inwiefern dies am Schreibstil der (neben Alex Spohr) hauptverantwortlichen Redakteurin und Autorin Zoe Adamietz liegen mag, kann ich nicht beurteilen. Sollte es daran liegen, so wünsche ich mir viele weitere Spielhilfen aus ihrer Feder.

Nach wie vor ist für mich Havena das Maß aller Dinge, wenn es um Spielhilfen für DSA5 geht. Aber das Dornenreich schafft mühelos den zweiten Platz auf meinem persönlichen Siegertreppchen. Daher können 8 von 9 Rieshörnern eine uneingeschränkte Empfehlung abgeben!

Fazit: 8 von 9 Rieshörnern

Nandurion dankt der Ulisses-Spiele GmbH für das Rezensionsexemplar!
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4 Antworten zu Das Dornenreich

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  2. Adalariel sagt:

    Danke für die Rezension!

  3. Pingback: Rezensionsspiegel Juni 2021 | Nandurion

  4. Marcus Jürgens sagt:

    Schöne Rezension, deren Fazit mich sehr freut. Werde ich mir jetzt zulegen!

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