Rezension: Die Gestade des Gottwals

Ein sehr großes Crowdfunding und eine sehr große Spielhilfe über sehr große Menschen im Nordwesten Aventuriens verdienen eine sehr große Rezension. Unsere Redakteure Sirius und Thorus haben sich eingehend mit der Regionalspielhilfe “Gestade des Gottwals” auseinandergesetzt. Ob die Publikation die sehr großen Erwartungen erfüllen konnte, lest ihr im folgenden Disput.

Sirius: Der Norden Aventuriens gefällt mir schon immer und seit der Box “Die Seefahrt des Schwarzen Auges” (1994) bin ich sozusagen Thorwal-Fan. Bei dem Crowdfunding habe ich daher mitgemacht, allerdings nur ein etwas kleineres Paket gebucht. Daher war ich überrascht, wie viele PDFs im Lauf des Jahres 2020 bei mir eintrudelten. Besonders gut gefiel mir hierbei das Abenteuer “Mittsommerrache”, das ich für eines der besten Einsteiger-Szenarios halte, das je für DSA5 geschrieben wurde. Aber auch die anderen Dateien, die im Kielwasser des Crowdfundings mit schwammen, überbrückten die Zeit bis zum Februar 2021 ziemlich gut.

Thorus: Hurra, Thorwal! Neben Weiden, Albernia und Rakshazar meine Lieblingsregion auf dem Derenrund! Seit 1996 treibe ich mich hier herum; insofern feiern Thorwal und ich in diesem Jahr Silberhochzeit. Die Unterstützung der bereits 2017 angekündigten Regionalspielhilfe (RSH) war für mich daher eine Ehrensache. Lange habe ich mich nicht mehr so auf ein Crowdfunding gefreut. Genauer gesagt seit Havena. Und da bereits die Hauptstadt von Albernia der erhoffte Kracher wurde, konnte mit Thorwal absolut nichts schiefgehen, dachte ich. Meine Vorfreude kannte keine Grenzen. Später ahnte ich: Vorfreude ist leider stets die schönste Freude.

  1. Erscheinungsbild und Bandstruktur

Wenn eine Tierkriegerin vom Geist eines Bären erwählt wird, hat sie oft ein ruhiges Gemüt, kann im Kampf aber äußerst aggressiv werden. (Bild von Dagmara Matuszak)

Sirius: Die Optik des Bandes ist hochwertig und die einzelnen Kapitel lassen sich flüssig lesen, so wie ich es mittlerweile von DSA5 gewohnt bin. Insbesondere das Cover von Ben Maier muss hervorgehoben werden, da ich es ansprechender finde, als die Cover von “Die Flusslande” oder “Havena – Versunkene Geheimnisse”. Zudem wird in Hinblick auf das Gjalskerland inhaltlich viel Neues geliefert. Das Verhältnis von Fließtexten, Infoboxen und Illustrationen stimmt. Das gesamte Layout überzeugt mich. Die präsentierten Völker erinnern zwar an Wikinger, Kelten und Pikten, sind aber klar aventurisch geprägt, was auch der Tatsache zu verdanken ist, dass zum Thema Thorwal in den letzten 30 Jahren schon viel geschrieben wurde… Das Werk, mit dem sich “Gestade des Gottwals” messen muss, ist der 2004 erschienene Regionalband mit dem überlangen Titel: Unter dem Westwind: Thorwal, das Gjalskerland und die streitenden Königreiche Nostria und Andergast. Damals störte mich die krude Zusammenfassung der Wikinger-Kulturen mit den eher gemäßigten Mittelalter-Kulturen in einem gemeinsamen Band. Daher begrüße ich die Trennung der beiden Thematiken, denn Thorwal und Andergast gehören meiner Meinung nach nicht in ein gemeinsames DSA-Buch.

Weitere gute Vergleichspunkte sind die bekannten Spielhilfen zu Havena und zu den Flusslanden. “Gestade des Gottwals” ist mit 192 Seiten exakt so dick wie “Die Flusslande” und wesentlich umfangreicher als die Havena-Spielhilfe, welche mit 132 Seiten schlanker daherkommt. Die Grund hierfür liegt auf der Hand: Alle DSA5-Regionalspielhilfen sind auf 192 Seiten genormt, nur “Versunkene Geheimnisse” darf abweichen, da hier keine Region, sondern eine einzelne Großstadt präsentiert wird. Meiner Ansicht nach sind 192 Seiten ein guter Umfang pro Region, was sich auch anhand von “Das Dornenreich” belegen ließe. Klar, DSA-Kenner wollen oft noch viel mehr lesen, aber die Redaktion muss auch an Neulinge denken, die man ja nicht abschrecken oder erschrecken will. Der vorliegende Regionalband folgt daher im Kern dem bekannten Aufbau und beginnt mit den Rubriken “Land & Leute” sowie “Kultur & Wissenschaft”. Wie viel sich hier jeweils auf die Thorwaler bezieht und wie viel auf die Gjalskerländer, ist schwer zu ermessen. Insgesamt würde ich aber sagen, dass beide Völker zumindest annähernd den gleichen Stellenwert haben, was zu einer Aufwertung der Gjalskerländer führt, die trotz vieler Bemühungen schon zu oft die zweite Geige spielten. Diese Aufwertung gefällt mir, denn ich liebe das Gjalskerland!

Thorus: Da stimme ich zu. Ich habe aber den Eindruck, dass die Beschreibungstiefe auf Seiten Thorwals deutlich ausgeprägter ist. Trotzdem schön, dass wir viel Neues und teilweise Unbekanntes über die Gjalsker*innen erfahren.
Eine auffällige Abweichung vom üblichen Aufbau findet sich in den einführenden Kapiteln. Wo sonst zahlreiche Übersichtskarten eine geographische und politische Einordnung ermöglichen, wurde vermutlich der Platz knapp. Positiv hervorzuheben ist daher, dass auf sechs Bögen ungewöhnlich viele (wundervolle) Karten dem Werk beiliegen. Diese sind auch nötig, denn die Orientierung dürfte ansonsten etwas schwer fallen. Doch nicht nur die Karten sind gelungen: Die Innenillustrationen wirken insgesamt ebenfalls sehr stimmig und abwechslungsreich. Einige Dinge muss ich allerdings ansprechen, die mir unangenehm aufgefallen sind. Spätestens in Kombination mit den Zusatzbänden fällt auf, dass stark recycled wurde. Einige Illustrationen tauchen, über die Produktflöte verteilt, drei- bis viermal auf; zudem wurden ältere Abbildungen aus anderen Publikationen wiederverwendet. Bei einer Rekordfinanzierungssumme von über einer Viertelmillion Euro hätte es etwas abwechslungsreicher zugehen dürfen.

Sirius: Da ich kein Experte für die Kostenkalkulation von Rollenspielprodukten bin, kann ich mit Blick auf das “Recycling” von Illustrationen keine profunde Aussage treffen. Zu bedenken ist zumindest, dass die Summe von ca. 266 Tausend Euro nicht ausschließlich in diesen einen Regionalband floss, sondern wohl auf ungefähr zehn verschiedene Thorwal-Produkte verteilt werden musste. Natürlich steht “Gestade des Gottwals” klar im Mittelpunkt, aber auch die anderen Produkte erforderten Arbeit, Zeit und Geld. Und auch Veröffentlichungen wie “Die Flusslande” enthielten Illustrationen, die mir schon von anderer Stelle bekannt waren. Die Frage nach der effizienten Nutzung der gigantischen Crowdfunding-Summe finde ich sinnvoll, die Kritik muss ich jedoch ein abmildern, denn 40 € sind für das vorliegende Produkt fair. Für einen vertiefenden Einblick in die Kostenstruktur von Rollenspielprodukten empfehle ich einen Blogbeitrag von Harald Eckmüller, der erklärt, warum für Rollenspielbücher im Prinzip noch höhere Preise angemessen wären.

Thorus: Schon richtig, in der RSH selbst gibt es keine Dopplungen. Und diese steht ja hier im Mittelpunkt. Kritisieren muss ich aber noch etwas anderes, nämlich dass es ausgerechnet im „Land der Freien“ und in den Barbarenlanden der Gjalsker*innen neuerdings recht züchtig zugeht. Die oberkörperfreien Gjalskerinnen haben so häufig Haare, Schmuck oder sonstige Gegenstände zufällig vor den Brustwarzen, dass es an Lächerlichkeit grenzt. Eine (wiederverwendete) Illustration wurde sogar dahingehend geändert, dass eine zuvor oberkörperfreie weibliche Person ein Leibchen übergezogen bekommen hat, während ihr männlicher Gegenpart weiterhin entblößt herumlaufen darf. Hier ist zu beobachten, wie man sich bereits im vorauseilenden Gehorsam für eine US-Veröffentlichung in Stellung bringt und die eigene, progressive Spielwelt antifeministischen, reaktionären US-Mainstream-Moralvorstellungen unterwirft. Weibliche Körper werden verhüllt und mit Scham attributiert. Dass es bei DSA jemals soweit kommen würde ist traurig, da die bewusste Abgrenzung, in diesem Punkt, gegenüber dem prüden D&D eigentlich zur DNA von DSA gehörte. Selbst die gewählten Serienvorbilder (Vikings, GoT usw.) sind schließlich freizügiger.

Sirus: Auf die Frage nach der bildlichen Darstellung der freizügigen Gjalskerländer einzugehen, finde ich schwierig. Es ist beinahe eine politische Frage, die von der Rezension der Spielhilfe eventuell wegführt. Mir persönlich erscheinen Darstellungen der Gjalskerländer mit dicken Bärenfellumhängen und warmen “Schottenröcken” realistischer und stimmiger. Solch eine Darstellung ziert auch die Rückseite der Spielhilfe. Aufgrund des kalten Klimas empfinde ich die Illustrationen auf S. 110/111 eher albern, da sie für mich nicht in das Bild dieser “winterlichen” Region passen. Vielleicht ist es ein Versuch, das in der Region vorherrschende Conan-Motiv aufzugreifen, allerdings wirkt es mit Blick auf Aventurien unrealistisch. Die These, dass es zur DNA von “Das Schwarze Auge” gehöre, nicht prüde zu sein, finde ich etwas gewagt. Gleichzeitig gibt es nämlich das Klischee, dass vor allem ältere Männer DSA spielen, um sich gelegentlich am Anblick sexualisierter Frauenkörper zu erfreuen. Genau in diese Kerbe schlug leider das Cover von “Havena – Versunkene Geheimnisse”. Solche Darstellung brauche ich nicht, daher dürfen sich die Gjalskerländer*innen gerne gender-übergreifend verhüllen, dies sollte sich dann natürlich – wo ich dir Recht gebe – nicht nur auf Frauen beziehen. Jetzt aber zurück zu Sache!

Thorus: Da muss ich noch einmal einhaken: Zunächst geht es mitnichten um eine sexualisierte Darstellung, sondern um eine Darstellung von Gjalskerinnen in Alltagssituationen, während das Havena-Cover klar auf male gaze getrimmt ist, da stimme ich dir zu. In der Spielhilfe steht, dass alle Menschen im Gjalskerland (außer einige Schaman*innen) oberkörperfrei herumlaufen und nur im allertiefsten Winter einen Fellumhang überwerfen. Einerseits natürlich, um ihre kulturell äußerst wichtigen Hautbilder zu zeigen. Andererseits wissen wir bereits seit der Einführung des Volkes, dass es komplett kälteresistent ist. Insofern liegt hier eine klare Ungleichbehandlung bei der Darstellung der Figuren vor, (das erst mit dieser Spielhilfe eingeführt wurde) und zwar aus scheinheiligen, reaktionären Offplay-Gründen. Das fällt auf und das stört mich.

  1. Orte und Handlungsschauplätze

Auch Handel, Währungen, Steuern und Zölle spielen in Thorwal eine Rolle und werden von der Spielhilfe durchleuchtet. (Bild von Torben Weit)

Thorus: Die GdG entführen uns in das Land der Freien, Thorwal, sowie in das barbarische Gjalskerland. Die Region in Aventuriens Nordwesten ist seit jeher eines der beliebtesten Settings des Schwarzen Auges und Schauplatz (bzw. Ausgangspunkt) von so legendären Sagen wie der Nordlandtrilogie-PC-Reihe oder der Phileasson-Saga. Einige der besten DSA-Abenteuer spielen in der Region, wie z.B. „Die Dunkle Halle“ oder „Friedlos“. Die Spielhilfe stellt uns nicht nur die Landstriche und Seewege vor, sondern geht auf viele Städte und Ortschaften ausführlich ein. Außen vor sind diesmal die gut ein Dutzend Enklaven und Kolonien der Thorwaler*innen, die in UdW noch unter “Thorwaler fernab der Heimat” zusammengefasst wurden. Dies stört mich persönlich nicht, denn diese werden sicherlich in den entsprechenden Regionalspielhilfen aufgegriffen. Im Kapitel selbst finden sich (mit Ausnahme von Kendrar und Niellyn) leider keine Stadtpläne neben den Beschreibungstexten, so dass man die beiliegenden Karten zu Rate ziehen muss, was sich in der Printversion etwas einfacher gestaltet. Etwas schade finde ich, dass besondere Orte wie die ausführlichen Beschreibungen der Magierakademien und Kriegerakademien in die Zusatzbände ausgelagert wurden. Auch vermisse ich persönlich die Beschreibung eines Schiffes oder eines typischen thorwalschen, oder auch gjalskischen Dorfes. Stattdessen bekommen wir die Trollzwinger Ottaskin und ihre Mitglieder präsentiert. Da diese aber aus der Sicht eines „allwissenden Erzählers“ verfasst wurde und wir sämtliche Motive und Geheimnisse der Mitglieder kennenlernen, werden Spieler*innen, die eigentlich außerhalb des Mysterienteils vor SL-Wissen geschützt sein sollten, unnötig gespoilert. Und wie verwenden wir diese Ottaskin im Spiel? Soll sie als Verbündete oder als Antagonistin dienen? Die Spielhilfe bleibt uns eine Antwort schuldig. Eine Dorfbeschreibung, wie in bisherigen Regionalspielhilfen, wäre unverbindlicher und hilfreicher gewesen. Und tatsächlich existiert diese: Ebenfalls ausgelagert, in der Spielhilfe „Schicksalsschwur und Skaldensang“ (von der wir hier noch hören werden…).

Sirius: Die Produktpolitik, zentrale Themen der Spielwelt auf mehrere Bücher zu verteilen, ist auch mir ein Dorn im Auge. Allerdings scheint dies mittlerweile ein allgemeines Kennzeichen des Spielsystems “Das Schwarze Auge” zu sein. Ein Kontrastpunkt wäre hier “Dungeon Crawl Classics”, ein System, das in einem einzigen Buch alle Regeln, alle Sonderregeln, alle Professionen, alle Zauber, alle Liturgien und alle Waffen präsentiert. Daher muss ich als Realist feststellen: Wer diese Produktpolitik ablehnt, der sollte Aventurien lieber mit einem alternativen Regelsystem wie Ilaris oder Savage Worlds bespielen und DSA5 den Rücken kehren. Es klingt drastisch, entspricht aber der realen Situation, wie sie sich seit 2015 darstellt. Mit Blick auf “Gestade des Gottwals” muss ich aber auch verdeutlichen, dass die allgemeine Veröffentlichungspolitik von Ulisses für mich kein Kriterium für die Bewertung der vorliegenden Spielhilfe darstellt.

Thorus: Ich könnte mich für einen Disput zu diesem Thema begeistern! (Halten wir mal fest.) Grundsätzlich liebe ich das DSA5-Büffet mit den aufgeteilten und optionalen Spielhilfen. Aber GdG übertreibt es etwas. Was ich sogar unter den ausgelagerten Infos vermisse: Wir finden keinen Raum für unsere eigenen Held*innen, bzw. Optionen, wie wir diese einflussreichen Positionen besetzen könnten. In den meisten Regionalbeschreibungen wurden bislang bewusste Leerstellen gelassen, um unseren eigenen Ambitionen nachgehen zu können. In GdG wurden uns (im Vergleich zu UdW) sogar Optionen weggenommen. Wo zuvor recht unbekannte und spärlich beschriebene Gebiete die Möglichkeit eröffneten, selbst zur Jarlin aufzusteigen, ohne mit den offiziellen Setzungen zu kollidieren, ist dies durch eine unnötige Überbeschreibung nicht mehr möglich. Jedes Jarltum hat nun benannte Jarls und Jarlinnen. Andererseits ist auch der Raum für eigene Handlungsorte und Wirkungsstätten äußerst eng geworden. Exakt einmal (!) wird uns in der Spielhilfe ein Zuhause offeriert: Im „nahen Umland“ von Olport hat man uns Platz für die eigene Ottaskin eingeräumt. Danke, sehr gnädig… Da passt es auch ins Bild, dass wir keinerlei Schiffe oder Schiffspläne gezeigt bekommen, nicht einmal das Schiff der generischen Trollzwinger Ottaskin; übrigens auch nicht in den Zusatzbänden. Ein seefahrendes Völkchen wie Thorwal verfügt zwar über sieben Schiffstypen, die in kurzen Sätzen vorgestellt werden, doch es gibt keine Abbildung, die sie zuordnet. Wie sieht eine Knorr aus? Wie sieht ein Winddrache aus? Das müssen wir leider in der Vorgängerpublikation nachschlagen, die in dieser Hinsicht ihre Sache besser macht. (Ich möchte an dieser Stelle transparent machen, dass ich jüngst eine Seefahrts-Spielhilfe für HeXXen mitverantwortet habe, die exakt diesen Punkt ausführlich berücksichtigt. Womöglich bin ich deshalb etwas voreingenommen und entsprechend enttäuscht.)

Sirius: Schöne Ortsbeschreibungen entdecke ich viele. Die schönste Beschreibung ist die von Niellyn, da wir dort viel über das Gjalskerland erfahren. Das Barbarenvolk lebt in Dorfgemeinschaften, die als Haerad bezeichnet werden. Niellyn ist mit 1500 Einwohnern das größte Haerad, das existiert. Spannend ist, dass dort domestizierte Kriegsmammuts in einem Gehege gehalten werden. Spannend ist auch, dass domestizierte Wollnashörner die Energie für eine Mühle liefern. Es gibt eine heilige Quelle, die fast wie ein Tempel betrachtet wird. Mich überzeugt, dass den Gjalskerländern das Konzept einer Taverne fremd ist, sie aber dennoch ein Gebäude haben, das diesem Zweck nahekommt. Bräuchte ich als Spielleiter ein anderes Dorf der Gjalskerländer, dann würde ich Niellyn quasi halbieren und die markantesten Gebäude weglassen. Da bin ich pragmatisch!

Die These, dass Aventurien immer detaillierter und exakter beschrieben wird, kann ich bestätigen. Dadurch kann das Gefühl aufkommen, dass kaum noch Spielraum für die eigene Entfaltung vorhanden sei. Mittlerweile ist bei jeder aventurischen Stadt festgezurrt, welche Tempel, Tavernen und NSC es gibt. Ehrlicherweise muss ich aber zugeben, dass dies nichts ist, was ich an “Gestade des Gottwals” kritisieren würde. Es ist ein Trend, der mit jeder Regionalspielhilfe voranschreitet. Als Bernhard Hennen 1990 die Phileasson-Kampagne konzipierte, standen ihm noch viele weißen Flecken zur Verfügung, an denen er sich austoben konnte. Die heutige DSA-Redaktion füllt die letzten kleinen weißen Flecken, was aus meiner Perspektive völlig nachvollziehbar ist.

Thorus: Ich finde nicht, dass sich das ausschließt. Schließlich ist die Beschreibung von Havena viel detaillierter und fokussierter; kein einziger weißer Fleck ist mehr vorhanden. Und dennoch ist sie voll von erzählerischen Leerstellen und Handlungsanreizen, die wir kreativ ausfüllen können. Das in GdG beschriebene Gebiet hat im Vergleich zu Havena gigantische Ausmaße und dennoch fühle ich mich als SL sehr viel eingeschränkter. Es gibt einfach nichts zu tun.

  1. Protagonisten und Antagonisten

Kjaska Brydasdottir ist eine neue Gallionsfigur Thorwals und zugleich die Sprecherin der Modernisten. (Bild von Regina Kallasch)

Sirius: Zwölf Personen werden im Detail vorgestellt und jeweils mit einem Portrait illustriert. Zusätzlich werden 22 weitere NSC kurz skizziert. Bei den zwölf detailliert beschriebenen Persönlichkeiten handelt es sich um sechs Frauen und sechs Männer, was ich sehr ausgewogen finde. Allerdings sind drei Viertel dieser detailliert beschriebenen Menschen aus Thorwal, was ich schade finde. Hier hätte ich mir mehr Figuren aus dem Gjalskerland gewünscht, fairerweise eigentlich sechs von zwölf! Bei der Betrachtung der NSC war mir persönlich Ôle Swafgardsson, der Hochgeweihte des Swafnir, am sympathischsten. Er wird als großer Redner mit herausragender Überzeugungskraft charakterisiert. Ich interpretiere ihn quasi als Seele Thorwals, denn er symbolisiert Mut, Gemeinschaftssinn und Freiheitsliebe. Im Anhang findet man über ihn die geheime Meisterinformation, dass er sich manchmal Sorgen macht, er wäre keine so herausragende Persönlichkeit wie seine Vorgängerin. Die Spoilerwarnung konnte ich mir hier sparen, denn das war sie schon, die ach so geheime Meisterinformation. Ich will damit sagen, dass das Genannte bei mir in keiner Weise als Meisterinformation durchgeht und dies ist symptomatisch für den sogenannten Mysterienteil im Anhang, der zu 90 % viel zu harmlos daherkommt. Diesen Mysterienteil sehe ich daher als eine Schwachstelle von “Gestade des Gottwals”. Hier fehlen mir echte Überraschungen.

Thorus: Das sehe ich ähnlich. Die größte Schwachstelle im Werk ist für mich aber der Umgang mit bekannten NSCs und die mit heißer Nadel gestrickte Etablierung von völlig unbekannten neuen NSCs, die uns im Kapitel “Von Rang und Namen” präsentiert werden. Ich möchte einräumen, dass dies ein Faktor ist, der neuen Fans nicht auffallen mag. Wer jedoch länger in der Welt des Schwarzen Auges unterwegs ist und das eine oder andere Abenteuer in Thorwal gespielt hat, wird bemerken, dass etwas fehlt. Vermutlich wird dies damit zusammenhängen, dass die Rechte an zahlreichen alten Figuren heute nicht mehr vorliegen; schließlich haben nahezu alle einflussreichen Autor*innen, die sich um Thorwal verdient gemacht haben, in den letzten 5-10 Jahren DSA im Allgemeinen und die Redaktion im Speziellen verlassen. Dies merkt man nirgends so sehr, wie in diesem Kapitel, wo recht blasse und unbekannte Charaktere in viel zu große Fußstapfen treten müssen, während bekannte und beliebte NSCs quasi im Nebensatz entmachtet und in Rente geschickt wurden. Teilweise mit hanebüchenen Begründungen und mit der unerfreulichen Begleiterscheinung, dass sogar das Setting ein stückweit verbogen werden musste. Ein bereits angerissenes Beispiel ist Jurga Trondesdottir, die bisherige oberste Hetfrau; ursprünglich auf Lebenszeit gewählt. Diese trat jüngst freiwillig zurück, da sie mit ihren Modernisierungsbestrebungen so unbeliebt wurde, dass ein weiteres kleines Skandälchen ausreichte, damit sie die Segel streichen musste und nun das Schicksal ihres Vaters Tronde und des guten alten Phileasson teilt: Sie muss irgendwo jenseits der Gestade des Gottwals „Schrödingers Hetfrau“ spielen. Tot oder lebendig? Völlig egal, Hauptsache von der Bühne geschrieben.

Stattdessen wurde mit dem völlig unbekannten Asgrimm Ragnarsson ein Kompromisskandidat gefunden. Selbst innerhalb der Spielhilfe wird er als „kleinster gemeinsamer Nenner” und „Übergangslösung“ beschrieben. Es mag persönlicher Geschmack sein, aber selbst Neulinge dürften bei dieser Beschreibung nicht gerade Lust auf eine Begegnung mit dem Oberhaupt dieses stolzen Volkes haben. Die Irrelevanz dieser Figur geht so weit, dass wir erst im Anhang, dem Mysterienteil, Asgrimms Geburtsjahr finden. In der Charakterbeschreibung wurde das offenbar vergessen. Natürlich ist Asgrimm keine Übergangslösung. Für mich ist rein offplay bereits klar, dass die Inhalte der Spielhilfe über das nächste Jahrzehnt Bestand haben werden. Warum ein so großes, wegweisendes politisches Ereignis wie die Wahl des neuen obersten Hetmanns nicht innerhalb eines Abenteuers oder wenigstens eines Romans präsentiert wird, sondern als erstes auf Facebook gepostet wurde, dürfte wohl ein Geheimnis der Redaktion bleiben. Alternativ: Wieso gab es nicht wenigstens eine Offplay-Abstimmung innerhalb der Community, wie zur Bornlandwahl? Jurga und Asgrimm sind nur ein Beispiel; insgesamt hat sich die relevante Figurenriege größtenteils ausgewechselt und die alten Charaktere wurden, mit kurzen Einwürfen, aufs Abstellgleis geschoben. Für heldenhaftes Rollenspiel braucht es aber zwingend lebendige, also „aktive“ und große Persönlichkeiten, an denen man sich reiben kann; mit denen man sich messen möchte und die man eines Tages übertrumpfen will. Die neu eingeführten Figuren haben leider noch keinen Legendenstatus aufgebaut, um dieser Rolle gerecht werden zu können.

Sirius: Die Einführung neuer Persönlichkeiten sehe ich weniger kritisch, gebe aber zu, dass hier noch Luft nach oben gewesen wäre. Vor allem der oberste Hetman aller Heutleute wirkt irgendwie blass. Die Kontinuität mit älteren Publikationen sehe ich durchaus als gegeben, da Figuren wie Tula von Skerdu bereits 1990 in der Thorwal-Box enthalten waren. Die erste Zeichnung der Oberhexe Thorwals stammte von Ina Kramer und das neueste Artwork orientiert sich stark am Original, was mir gefällt. Genau wie der Pirat Schwarzaxt war Tula eine wichtige Figur in “Friedlos – Irrfahrt im Nebel”, was vielen gefallen wird. Zu der juristischen Seite möchte ich hier nichts schreiben, sondern nur meine persönliche Meinung äußern: Aventurien ist eine sehr traditionelle Spielwelt mit vielen Spielenden, die ebenfalls sehr traditionell denken. Ich hingegen begrüße Neuerungen, da mir Aventurien oft zu bieder und traditionell vorkommt. Und wenn die Neuerungen in diesem Fall durch äußere Umstände forciert wurden, dann kann ich das gut akzeptieren.

Thorus: Na ja, ich finde ja auch, dass “neu meistens besser” ist, aber es muss glaubwürdig bleiben. Die Abservierung der alten Figurenriege könnte man durchaus verzeihen, wenn man nostalgischen Spieler*innen (die man, wie gesagt, im Crowdfunding umworben hat) wenigstens die Möglichkeit verschafft hätte, im Thorwal vor 1041/42 BF zu spielen. Dieses lässt sich nämlich nur schwerlich aus dem vorliegenden Material erschließen; die auf fünf Seiten heruntergerasselte Historie ist leider nicht tiefgründig genug. Insbesondere in der Dornenreich-RSH, die eine Region abbildet, die noch viel größeren Veränderungen unterworfen war, lässt sich die Zeit vor dem Status Quo problemlos rekonstruieren, was auch mit einem umfangreicheren Mysterienteil zu erklären ist. Bereits im Vorwort wird der “Elefant im Raum” angesprochen, wohingegen in GdG manche Dinge schlichtweg totgeschwiegen werden. So werden nicht einmal die Hjalwara erwähnt, ein nach Trondes Verschwinden gegründeter Bund, der seine Vision eines modernen Thorwals weiterträgt. Eine aufstrebende und einflussreiche Fraktion, die sang- und klanglos verschwunden ist. In den einschlägigen Foren wurden bereits weitere Dinge, Figuren und Orte als „vermisst gemeldet“. Dankbar war ich in diesem Zusammenhang allerdings für einen Infokasten zur zweiten Jarltumsreform 1041 BF, der uns wenigstens erklärt, welche früheren Jarltümer in den heutigen aufgegangen sind.

Sirius: Ich mag DSA-Nostalgie und diese wurde an mehreren Stellen befriedigt. Toll finde ich, dass man den einzigen Gjalskerländer, der seit 1989 unterwegs ist, natürlich eingebaut hat. Die Rede ist von Rastar bren Morved, besser bekannt als Rastar Ogerschreck, der am großen Donnersturmrennen mit seinem von Wollnashörnern gezogenen Streitwagen teilnahm und sich in der Dritten Dämonenschlacht sowie in der Ogerschlacht einen Namen machte. Auch Ohm Follker, der legendäre Skalde, der seit 1990 Aventurien bereist, fiel mir positiv auf. Alte Hasen werden ihn aus “Folge dem Drachenhals” kennen, Leseratten eher aus den Phileasson-Romanen von Bernhard Hennen und Robert Corvus. Und wer die Spielhilfe genau studiert, findet sicher noch weitere nostalgische Easter-Eggs.

Die sogenannte „Produktflöte“, die Engor aus Angbar netterweise für uns fotografierte.

  1. Regeltechnisches

Thorus: Auch die Gestade des Gottwals enthalten wieder jede Menge Regeln, um das Spiel in und für die Region zu würzen. Professionen, ein (sehr knappes) Herbarium und ein Bestiarium gehören zum festen Kern jeder Regionalspielhilfe. Schön: Auch der tolle Hintergrundgenerator für Held*innen ist erneut zu finden. Prima!

Sirius: Der Hintergrundgenerator ist tatsächlich ein hervorragendes Tool, um der eigenen Kreativität auf die Sprünge zu helfen. Hier kann in Bezug auf die Geburt, die Kindheit und die Jugend ausgewürfelt werden, inwiefern etwas Besonderes geschehen ist. Beispielsweise könnte herauskommen, dass mein Charakter als Kind einen Schatz gefunden hat, welcher dann durch einen weiteren Würfelwurf noch näher spezifiziert wird. Das Ganze ist sowohl für profane als auch für magiebegabte Charaktere gewinnbringend nutzbar.

Thorus: Apropos magiebegabt: Die Gestade des Gottwals scheinen vor Magie und karmaler Energie zu strotzen. Nur so ist es zu erklären, dass wir unzählige „übernatürliche Professionen“ präsentiert bekommen. Magierinnen aus Olport und Thorwal, Sangara, Runenschöpfer, Tierkriegerinnen, Schamanen, Swafnirgeweihte. Wir werden überschwemmt mit Runen und Zaubern, bzw. göttlichen Liturgien. Wer diese Charaktere spielen möchte, kommt um GdG also nicht herum. Leider stehen die weltlichen Professionen etwas zurück…

Sirius: Wenn Menschen DSA spielen, entwickeln sich oft Lieblingsprofessionen. Ich mag Schamanen, Krieger, Stammeskrieger sowie Animisten und habe in meiner DSA-Runde schon oft Engor Asleifson, den mutigen Swafnir-Geweihten, gespielt. Vielleicht ist daher zu erahnen, dass mir die Professionen aus “Gestade des Gottwals” sehr gut gefallen. Aus diesem Grund bin ich erst einmal zufrieden, hätte mir zu den Animisten aber noch mehr Informationen gewünscht. Es ist nämlich total spannend, dass Animisten neben ihrem Seelentier als zweiten Patron auch einen Erzdämon wählen dürfen, was ich innerweltlich gerne noch besser verstehen würde. Weiterhin fiel mir auf: Die thorwalschen Runenschöpfer nutzen uralte Zauberzeichen und klingen in der Beschreibung zunächst großartig, erhalten dann in den konkreten Regeln aber wenig Herausragendes. Fertigkeiten wie die magische Rüstrune erfordern zu viel Würfelei im Kampf und sind unter dem Strich zu schwach, um mich zu begeistern. Ähnliches gilt für Zauberbarden, die Sangara genannt werden: Ich bin zwar kein echter Powergamer, aber hier fehlen mir starke Sonderfertigkeiten, die mich dazu bringen könnten, diese Charakterklasse zu spielen.

Thorus: Problematisch ist leider, dass so manches in der Regionalspielhilfe nur angerissen wird und erst in den Zusatzbänden in die Tiefe geht. Wo man als Druide oder Hexe in Nostergast mit dem Grundregelwerk und „Die Streitenden Königreiche“ glücklich wurde, sind wir an den Gestaden des Gottwals auf die RSH, die zugehörigen Zusatzbände und die Magiebände (Aventurische Magie 1 bis 17) bzw. Götterbände (Aventurisches Götterwirken 1 bis 13) zwingend angewiesen. Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen: Die Profession der Godi. Diese sind, kurz gesagt, Prophetinnen oder Wahrsagerinnen. Wandelnde Orakel also. Während die Spielhilfe die Profession vorstellt und einräumt, dass es auch einige Betrügerinnen unter ihnen gibt (die die Ausnahme zu sein scheinen) erhalten wir lediglich Regeln für ebenjene Betrügerinnen; die „weltlichen Godi“. Wo finden wir umfangreiche Hintergründe und Regeln für die „echten” Godi? Richtig. Ausgelagert in einem Zusatzband. Und ansatzweise ergeht es Magier*innen, Geweihten und Sangara ebenso. Selbst etwas so elementares wie die thorwalsche Sprache und Schrift wird nur in einem Zusatzband vorgestellt, in der (sehr guten) Spielhilfe „Schicksalsschwur und Skaldensang“. Selbst wenn wir uns den guten alten Olporter Hund als Tiergefährten wünschen, müssen wir zum Zusatzband greifen.

Auch die regeltechnischen Nebenschauplätze enttäuschen mich zutiefst. Imman wurde bekanntlich in Thorwal erfunden. Selbstverständlich habe ich erwartet, dass das Spiel ausführlich vorgestellt wird. Wir lernen zwar auf viereinhalb (!) Seiten die Palenkel genannten „Highland-Games“ der Gjalsker kennen, aber dem Nationalsport der Thorwaler werden exakt zehn Zeilen eingeräumt. (Direkt neben dem Bild der Havena Bullen, das man aus der Havena-Spielhilfe recycelt hat. Grmpf!) Ich möchte aber keine weltliche Godi spielen, die quasi nichts kann, als bedeutungsschwer raunend in Hühnerknochen zu wühlen, ohne dass es eine Regelmechanik für diesen Unsinn gäbe. Ich will die versoffene, ehemalige Starspielerin von Pottwal Prem verkörpern, die durch halb Aventurien zieht und beim Gassenimman ein paar Silberlinge verdient. Wo ist die Profession Immanspieler?
Auch kommt mir zu kurz, inwiefern wir uns auf Kaperfahrten verdingen können. Eine entsprechende Profession wäre toll gewesen. So scheint die Zeit der klassischen thorwalschen Piratin, in rot-weißer Segeltuchhose, endgültig vorbei zu sein. Warum??

  1. Atmosphäre und Spielspaß

„Unter dem Westwind“ war 2004 so beliebt, dass es mehrfach nachgedruckt werden musste. Bietet die neue Spielhilfe genauso viel Spielspaß?

Thorus: GdG liest sich wie ein “Das gibt es hier!” und nicht wie ein “Das kannst du hier machen!”. Ich habe den Eindruck, eine Beschreibung der Region zu lesen, die sich vor allem auf das Alltagsleben fokussiert. Bereits in der Einführung wird dieser Ton gesetzt: Demnach sollen “Gemeinschaftssinn und Schicksalsglaube” den „Alltag der Region“ bestimmen. Ich möchte aber nicht nur Alltag erleben, sondern vor allem Abenteuer! Thorwal und das Gjalskerland sollten von Sagen und Legenden geprägt sein, nicht vom Alltäglichen. Doch es gibt kaum Anregungen, wie Held*innen in der Region tätig werden und bestimmte Ziele erreichen können. Während die Spielleitung, beispielsweise in „Die Streitenden Königreiche“, gesellschaftliche Positionen für Spielercharaktere zur Verfügung gestellt bekommt, die diese irgendwann erreichen können, sind solcherlei Anregungen in der vorliegenden Spielhilfe Mangelware. Gleiches gilt nicht nur auf der höchsten politischen Ebene, sondern auch im Kleinen: Eine archetypische Thorwalerin wird wohl, sofern sie nicht auf den Planken eines Schiffs steht, in der Natur unterwegs sein oder in einer Behausung vor den Elementen Zuflucht suchen. Bei gutem Premer Feuer und den Geschichten der Skalden. Wieso bekommen wir diese Orte nicht zu Gesicht, wie in UdW? Kein Drachenschiff, kein Langhaus in Sicht. Und das heimelige Grassodenhaus, das so liebevoll in UdW beschrieben wurde, taucht in GdG nicht einmal auf. Auffällig ist zudem, dass kaum bis keine Handlungsoptionen (plot-hooks), als konkrete Aus-Spiel-Hilfen und Anspielpunkte, geboten werden… Auch kehrt ein bereits von mir in der Spielhilfe “Die Flusslande” kritisiertes Phänomen zurück: Die Stimmungstexte sind nicht sehr stimmungsvoll. Während uns das “Dornenreich” und “Havena” in die Welt hineinziehen, ist GdG etwas lieblos und seelenlos heruntergeschrieben. Im trockenen Duktus eines Schulbuchs wird die Region flächendeckend entmystifiziert. All dies trübt, in meinen Augen, die Atmosphäre und den Spielspaß ganz gewaltig!

Sirius: Auch ich hätte mir mehr Plot-Hooks gewünscht, allerdings sind durchaus kleine Plot-Hooks enthalten. Zum Beispiel ist hier das Mysterium um das Vermächtnis von Hyggelik zu nennen: Hyggelik, der Große, war ein Kriegsheld, der das epische Schwert Grimring (besser bekannt als Orkenspalter) geführt haben soll. Dieser aus dem PC-Spiel “Schicksalsklinge” bekannte Gegenstand befindet sich aktuell in der Dunklen Halle, aber andere legendäre Schätze des Kriegshelden sind bis heute verschollen. Im Anhang der Spielhilfe wird grob skizziert, wie eine Heldengruppe versuchen könnte, dieses Mysterium aufzuklären. Und dies stelle ich mir sowohl als Spielleiter als auch als Spieler als eine stimmungsvolle Aufgabe vor, die für Spielspaß und Motivation sorgt. Ferner gibt es Vorschläge, die Regionen der Kreideklippen oder Donnerzacken zu bespielen. Die Autoren empfehlen, dies mit dem Schamanismus oder dem Thema Tiergeister zu verknüpfen. Es wird ein Szenario skizziert, bei dem ein Erdrutsch in einer heiligen Schlucht die Geisterwelt aufrüttelt und zudem eine Ghul-Höhle (oder ähnliches) frei legt. Die Spielleitung müsste vieles noch ausgestalten, als Plot-Hook ist es jedoch tauglich.

Thorus: Besser gefällt mir ohnehin der gjalskische Teil. Hier fanden und finden nur wenige offizielle Abenteuer statt und dies löst – wie auch in meinem Fall – weniger starke Emotionen aus. Das Gjalskerland kann als eine der wenigen „Sword & Sorcery“-Regionen Aventuriens gelten und ermöglicht größeres Sandboxspiel. Die Palenkel-Regeln laden die SCs beispielsweise zum Mitmachen ein. Um auch noch etwas Positives loszuwerden: Toll finde ich, dass wir für SC aus der Region im Kapitel „Kultur und Wissenschaft“ nette Spieltipps erhalten. Redensarten, Sprichwörter, sogar Beleidigungen wissen zu gefallen. Ich bin nach dem Lesen nun ein echter Experte für hjaldingsche Runen und gjalskische Hautbilder. Hier sprühen die Texte vor Kreativität. Doch auch hier steht ein großes „Aber“ hinter dem Lob: Denn Sagen, Erzählungen und Hintergründe finden wir ebenfalls vertiefend in den Zusatzbänden, darunter die Schöpfungsgeschichte der Gjalsker*innen.

  1. Fazit

Thorus: Thorwal! Das ist ein Synonym für große Gefühle, ABENTEUER, Sagen und Legenden, legendäre Held*innen und ihr Durst nach Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Die wildromantischen Skalden, die in sturmumtosten Wellentälern ihren Gottwal besingen; todesmutige Kapermagierinnen, die die Herzen horasischer Handelsschiffer zum Erschauern bringen; eisenharte, aber auch leidenschaftliche Anführer, mit großen Visionen und noch größeren Herzen… Vieles, was sich mit Thorwal verbindet, zeigt uns das wunderschöne Cover der Spielhilfe. Sobald wir das Buch aufschlagen, ist dieser Zauber teilweise verflogen. Eine Rollenspielhilfe ist für mich der zwischen zwei Buchdeckeln manifestierte Ruf des Abenteuers. Man muss das Salz des Meeres, den Met und den Duft der Lagerfeuer riechen können und den leichten Nieselregen auf der Haut erahnen dürfen. Doch ausgerechnet die Gestade des Gottwals lesen sich erneut wie ein Erdkundebuch aus den Neunzigern.

Um dennoch etwas positives zu erwähnen: Das (ebenfalls nicht ganz perfekte) Gjalskerland rettet diese Publikation etwas. Für Fans der barbarischen Gjalsker*innen ist die Spielhilfe ein absoluter Pflichtkauf. Ansonsten muss selbst der große DSA5-Fanboy in mir den Thorwal-Fans leider empfehlen, die Vorgängerspielhilfe im Ulisses E-Shop zu kaufen (leider nur) gebraucht zu kaufen, denn viele kleine Punkte mindern den Gesamteindruck: Die von allen bisherigen RSHs abweichende Einführung, ohne die praktischen Übersichtskarten. Das unnötige und unerklärliche Illustrationsrecycling, das selbst durch eine Viertelmillion Euro nicht verhindert werden konnte. Die fehlenden Regeln und Hintergründe (Stichwort Imman; Stichwort ausführlichere profane Professionen). Die Unvollständigkeit und Fragmentierung von wichtigen Hintergrundinformationen und Regelelementen, die den Kauf der Zusatzbände quasi zur Pflicht machen. (Stichwort Runen) Die teure Sammelbox, in die die Produktflöte gar nicht hineinpasst. Die prüde Selbstzensur, die für DSA vollkommen untypisch ist. Die nicht sehr mitreißenden Beschreibungstexte und die geringe Zahl von Plothooks und Ideen. Die Anbiederung an Vikings, Last Kingdom und Co in Text und Bild, statt die Eigenständigkeit des Settings zu zelebrieren. Die neue, äußerst blasse Figurenriege, die nicht in ein Heldensetting wie Thorwal passt. Die mangelnde An- und Ausspielbarkeit im Sinne einer Einbeziehung der SCs in das Setting.
266.116 € (!) wurden von euphorischen Thorwal-Fans zusammengetragen, um sicherzustellen, dass sie das Thorwal bekommen, was sie kennen und lieben. Das waren größtenteils keine Neueinsteiger, (die sicherlich Freude am Produkt entwickeln können). Nein, das waren die treuesten der treuen DSA-Fans, die nach der guten Erfahrung mit Havena ein Rekordcrowdfunding ermöglicht haben. Haben die alles bekommen, was sie sich erwünscht haben? Ich zumindest nicht. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, sollte wenigstens (das meiner Meinung nach unverzichtbare) “Schicksalsschwur und Skaldensang“ dazu kaufen, um ein befriedigendes Lese- und Spielerlebnis zu haben.

Ein guter Gjalskerlandteil, das sehr ordentliche Korrektorat sowie das Sensitivity Reading möchte ich ausdrücklich loben, sowie die hochwertige DSA5-typische Optik bei den Illustrationen, inklusive der fantastischen Karten. So begeistern sich immerhin 4 von 9 Rieshörnern für die bislang schlechteste Regionalspielhilfe für DSA5.

Sirius: „Gestade des Gottwals“ ist ein mitreißender Band, der nicht perfekt ist, aber den Kern des Settings gut transportiert. Sowohl Spielende ohne eine der vorherigen Regionalbeschreibungen als auch Neulinge können ohne Bedenken zugreifen. Jedoch: Was tun Menschen, die „Unter dem Westwind“ bereits besitzen? Wem die Aufmachung von DSA5 gefällt, macht mit dem Band nichts falsch. Wer sich ausschließlich für Thorwal interessiert, also nicht für das Gjalskerland, sollte genau abwägen, ob sich die Anschaffung lohnt. Für Fans der Gjaskerländer ist der Titel Pflichtlektüre, denn nirgendwo sonst findet man so viel Fachwissen und DSA5-Spielmaterial zu dem beliebten Barbarenstamm.

Das Langboot legt ab und 7 von 9 Seebären sind an Bord. Ein Seebär verpasste leider die Abfahrt, da er beim Lesen der langweiligen Mysterienteils einnickte. Numero Neun trauert alten Weggefährten nach und verpasst ebenfalls den Anschluss. Die sieben Seebären an Bord sind dennoch in bester Laune und genießen ihre Reise durch die Gestade des Gottwals.

Anmerkungen:
In einer früheren Version dieses Artikels wurde fälschlicherweise Markus Koch als Coverkünstler genannt. Dieser Fehler ist im Impressum der Backer-Auflage der Spielhilfe aufgetreten und wurde für die folgenden Auflagen geändert. Das wunderschöne Cover stammt von unserem ehemaligen Mit-Einhorn und Nandurion-Gründer Ben Maier.

Danke auch an unseren User Argilac, der uns darauf aufmerksam machte, dass „Unter dem Westwind“ leider nicht im Ulisses-Ebookshop zur Verfügung steht und nur noch antiquarisch zu erhalten ist.

Über sirius

Sirius heißt im wahren Leben Moritz und wuchs mitten im Ruhrgebiet auf. Seit Anfang der 90er bereist er nicht nur Aventurien, sondern auch andere fantastische Welten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Pen&Paper, PC-Games, Hörbücher oder Kartenspiele handelt. Unterwegs erkennt man ihn daran, dass er fast immer ein gutes Buch dabei hat, das nicht dem Mainstream entspricht. Von Nerd-Themen, die über DSA hinausgehen, berichtet er auf seinem Blog hochleveln.de
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20 Antworten zu Rezension: Die Gestade des Gottwals

  1. Nottel sagt:

    Danke für den Disput ihr zwei Einhörner. Ich kann beide Sichtweisen gut nachvollziehen. Da es mich selbst gerade nicht nach Thorwal zieht, werde ich die Bände aber später doch mal lesen.
    Ein Detail: Der Verbleib von Grimring selbst ist den Thorwalern bekannt und die „Dunkle Halle“, wo es sich befindet, wurde im gleichnamigen Abenteuer als „Pilgerstätte der Thorwaler“ gesetzt. Allerdings hatte Hyggelik wohl noch einige andere Schätze, die Helden aufspüren könnten.

    • Thorus84 sagt:

      Danke für den Hinweis, Nottel. Ich wollte es schon ändern, da habe ich gesehen, dass es Sirius geschrieben hat. Will da nicht in seinem Text rumpfuschen, aber er wird es schon finden. 🙂

    • sirius sagt:

      Danke für den Hinweis.
      Ich habe es korrigiert.
      Das Abenteuer „Die Dunkle Halle“ (A122) besitze ich leider nicht.
      Es ist auch als Ebook nicht zu erwerben.
      Eigentlich schade!

  2. Ben Maier sagt:

    Hallo ihr lieben Nanduriaten – könntet ihr bitte korrigieren von wem die Coverillustration stammt?

    Sie ist von mir, nicht von Marcus Koch – Ulisses hat sich beim Impressum vertan und den Fehler leider erst zu spät bemerkt. In der regulären Version (post Crowdfunding) sollte es dann richtig sein.

  3. Argilac sagt:

    Lieber Thorus,
    leider lässt sich die Vorgängerspielhilfe (Unter dem Westwind) nicht im Ulisses E-Shop kaufen. Man kann sie nur noch zu überhöhten Preisen auf einer bekannten Auktionsplattform beziehen.

    (im Gegensatz dazu liegt den DSA 4 Basisregeln, die noch im E-Shop zu erwerben sind, eine leicht gekürzte Version der Abschnitte über Andergast und Nostria bei)

    • Thorus84 sagt:

      Oha! Das ist ärgerlich. -.- Ich habe 2019 noch einige Regionalspielhilfen im Ebook-Shop gekauft, darunter die Schattenlande, die jetzt ebenfalls nicht mehr erhältlich sind. Scheinbar wurden und werden Spielhilfen entfernt. Das ist fast schon „damnatio memoriae“.
      Möchte gar nicht aussprechen, was ich davon halte.

      • Argilac sagt:

        Ich glaube, UdW war nie im E-Shop. Ulisses hat ja bei einigen Bänden aus der Zeit von FanPro das Problem, daß nicht einmal klar ist, welche Texte genau von welchen Autoren stammen. Bei anderen haben sie m.W. bis heute keine Vereinbarung mit den Autoren über die Verwertungsrechte für den Verkauf als pdf treffen können.
        Ich glaube, UdW fällt unter die erste Kategorie.

        • Thorus84 sagt:

          Ist natürlich möglich. Aber ich bin mir fast sicher, dass andere Bände mal im Shop waren. Ich hab sie nämlich in meiner Ebook-Library und kann sie nach wie vor herunterladen. Nur kaufen kann man sie nicht mehr. UdW besitze ich allerdings nicht als PDF sondern nur als Printversion, insofern will ich meine Hand dafür nichts ins Feuer legen.

          • Da nicht immer bei alten Werken im Impressum alle Autoren aufgeführt wurden, kann es selten passieren, dass ein Band als PDF herausgenommen wird, weil ein Autor oder eine Autorin sich meldet, die vergessen wurde. Wenn es dann mit der Person keine Vereinbarung gibt, kann das PDF nicht mehr verkauft werden. Alle Werke, die Ulisses als E-Book verkaufen darf, werden auch verkauft. Es macht für Ulisses ja auch keinen Sinn, das künstlich einzuschränken.

  4. Vibarts Voice sagt:

    Danke für den schönen Disput, der dieses mal auch den Namen verdient und ein Produkt schön vielseitig bespricht.

  5. Ektor sagt:

    Im Vergleich zu Unter dem Westwind ein kompletter Reinfall. Habe mein Exemplar nach dem ersten Lesen verschenkt. Für mich hat dieses lieblose, überfinanzierte Machwerk das Fass zum Überlaufen gebracht, nach 5 Jahren steige ich aus DSA 5 aus.

    • Balduin sagt:

      Ein wirklich gelungener Disput, danke!

      Zur RSH: Mein Eindruck ist, dass Ulisses sehr gutes Marketing macht, dabei jedoch den Mehrwert für den Spieltisch aus dem Auge verliert. Eine RSH ohne Abenteueranregungen ist ein Produkt ohne Seele. Hauptsache eine „Produktflöte“ für die Sammler rausbringen, die eh alles kaufen was hübsch aussieht.

  6. Pingback: Gestade-des-Gottwals-Disput bei Nandurion – Nuntiovolo.de

  7. Danke für den schönen Disput der das Werk aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet, so kann man gut für sich selbst rausfinden wohin man eher neigt 🙂

  8. Thor sagt:

    Ein sehr schöner Artikel zu einer Spielhilfe, auf die ich mich schon lange gefreut habe. Insbesondere die aufgearbeiteten Infos zu den Gjalskerländern.
    Wenn gleich ich aus Zeitgründen noch nicht alles lesen konnte, habe ich schon einige Stündchen vor dem Buch verbracht, zumal unsere Gruppe alsbald Richtung Thorwal und darüber hinaus unterwegs sein wird. 🙂

  9. Manuel sagt:

    Thorsten Most: p. Ulisses hat ja bei einigen Bänden aus der Zeit von FanPro das Problem,

    Da scheint im Hintergrund was abzulaufen.
    „Stätten okkulter Geheimnisse“ wurde auch über Nacht aus dem PDF Store entfernt. Daran erinnere ich mich sehr genau, weil ich letztes Jahr darüber nachgedacht hatte, es zu kaufen.
    Zum Glück gab es das noch als HC im F-Shop.

  10. queery sagt:

    Eine der besten Dispute seit langem. Dafür braucht es Nandurion. Kritisch und vielfältig, ohne frustriert und zeterig zu sein!

    Schade. Mein Fazit nach einem ersten Oberflächlichen Bandstudium ist: Ohne Crowdfunding wäre da vielleicht eine bessere RSH drauß geworden. Am Ende haben etliche Zusatzdingsbums das Erscheinen nur nach hinten gerückt und elementare Inhalte sind in Zusatzbände gewandert. Trotzdem insgesamt grade für Neueinsteiger*innen weiterhin eine brauchbare RSH mit tollen Bildern die Thorwalsche Stimmung verpfrühen.

  11. zakkarus sagt:

    Schön kommentiert, aber es lohnt sich ein Blick auf S.5 von UdW, wo auch erklärt wird warum zwei bisher (fast) unbeschriebene Nachbarregionen zu Thorwal aufgenommen wurden.
    Das die „Schöpfer“ Thorwals auch für die besten Abenteuer dort mitverantortlich waren, sollte man auch nicht übersehen. Und gäbe es das Gjalskerland ohne den Boten …?
    Leider werde ich wohl auf UDW sitzenbleiben … dieses neue Thorwal muß sich erst beweisen.

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